Interview 1984

Die Einsamkeit des S.G.
Ein Gespräch mit dem Zürcher Filmautor Steff Gruber


Eine erste Frage, Steff Gruber…

…ich möchte vorausschicken, dass wir bis heute Morgen um drei an meinem neuen Film «Fetish & Dreams» geschnitten haben. Bis ich dann eingeschlafen bin war’s noch später, ich bin also nicht so ganz in Form…

Immerhin entnehme ich Ihrer Antwort, dass Sie sich dem Medium Film mit Leib und Seele verschrieben haben. Welches war denn der erste Kinofilm, den Sie gesehen haben?

Walt Disneys «Mary Poppins». Da war ich etwas über 10 Jahre alt. Ich war fasziniert von den Zauberkünsten der Mary Poppins und von diesem Film ganz hingerissen. Aber auf meine spätere Entwicklung hatte ein ganz anderer Film grossen Einfluss. So mit 15 führte uns unser Pfarrer in der Jungen Kirche Roman Polanskis «The Fat And The Lean» («Der Dicke und der Dünne) vor. Er handelte von der repressiven Toleranz…

Etwas abstrakt, dieser Begriff. Was geschieht denn in diesem Film?

Ein dicker Mann wohnt in einer Hütte und lässt einen Dünnen für sich schuften. Der sieht eines Tages in der Ferne den Eiffelturm und läuft weg. Der Dicke fängt ihn ein, bindet ihm eine Ziege ans Bein und lässt ihn erneut für sich arbeiten. Doch wieder sieht der Dünne den Eiffelturm und läuft erneut weg, mit der Ziege am Bein. Der Dicke fängt ihn natürlich rasch ein und befreit ihn von der Ziege. Nun schuftet der Dünne ohne weiter zu murren und läuft nicht mehr weg.

Und was hat Sie an diesem Film so betroffen gemacht?

Zum einen die Machart des Filmes – es wird kein einziges Wort drin geredet, er lebt ganz von der Aussage der Bilder, zum andern die Art, wie Polanski eine komplizierte Thematik in eine jedermann verständliche Bildsprache umgesetzt hat: der Mensch von Scheinfesseln befreit, vergisst seine wahre Unterdrückung… Also, ich kam aus diesem Film raus und sagte meinem mich begleitenden Freund, jetzt wüsste ich, was ich werden wolle. Der erwiderte, es sei ihm längst bekannt, dass ich Pilot werden wollte. Ich aber erklärte ihm, dass ich Filmschaffender zu werden wünschte.

So hatte Ihr Freund doch nicht ganz unrecht. – Machen wir jetzt aber das, was in der Filmsprache «Rückblende» heisst: erzählen Sie mir etwas über Ihre Kindheit und Jugend…

Ich bin in Oberrieden am Zürichsee aufgewachsen und zwar in einer Künstlerfamilie. Ich besuchte die Sekundarschule, dann das Gymnasium, dort bin ich allerdings weggelaufen…

Was taten Sie dann?

Ich trat in die «F+F», Form und Farbe, die Schule für Gestaltung ein. Und hier machte ich so um 1972 meine ersten Kurzfilme. Einen, der später ausgezeichnet wurde, betitelte ich «Portrait». Da hatte ich eine Frau mitten im Hauptbahnhof auf ein rotes quadratisches Tuchsetzen lassen, um mit einer versteckten Kamera die Reaktion des Publikums festzuhalten: Kopfschütteln, Gelächter, Bemerkungen…

Und nach Abschluss der F+F-Lehrzeit?

…fing ich gleichsam eine weitere«Lehrzeit» an. Denn der «Portrait»-Erfolg ermutigte mich, mich nun endgültig dem Filmhandwerk zuzuwenden. Also wurde ich Kameraassistent für Werbespots, eine Arbeit, die mir gleichzeitig eine technisch hervorragende Ausbildung bot. Denn in der Werbung war Perfektion oberstes Gebot und stets wurde mit den neuesten technischen Errungenschaften gearbeitet. Ich lernte mit Licht, mit Objektiven, mit Filtern umzugehen, Sachen, die mir alle für meine eigenen Filme zugute kommen sollten.

Wie ist es dann zur Gründung Ihrer Agentur ALIVE gekommen?

Die Rezession machte der Tätigkeit als Kameraassistent für Werbespots ein Ende, denn die grossen Budgets blieben aus. Da ich aber keine feste Stelle annehmen wollte – das Unterordnen unter einen Chef mag ich nicht – gründete ich eine kleine Werbeagentur. Startkapital: die Schreibmaschine meiner Grossmutter und 300 Franken Kredit von meiner Mutter…

Doch heute leben Sie davon?

Ja, denn meine Kunstfilme, wenn ich sie mal so bezeichnen will, kosten mehr als dass sie einbringen. Also mache ich Plakatwerbung, Galeriekalender, selten mal auch einen Werbefilm…

1978 produzierten sie, mit sich selbst in einer der beiden Hauptrollen den Spielfilm «Moon In Taurus», eine für mein Empfinden bildlich überzeugende Auseinandersetzung mit dem Themen-Dreieck «Mitmenschliche Beziehung – Liebe – Einsamkeit». Haben Sie da eigentlich Reaktionen aus dem Publikum erlebt?

Da gab’s Zustimmung, aber auch Ablehnung. Einmal ging ich in eine Kneipe. Dort kam plötzlich ein Wildfremder und sagte, ich sei doch der, der in «Moon in Taurus» die Hauptrolle gespielt habe, ja den Film sogar gedreht habe. Ich nickte, worauf er von mir die 8.80 Franken Eintrittsgeld zurückhaben wollte. Ich bin aber auch schon auf der Strasse von jemand Unbekanntem gefragt worden, wann ich meinen nächsten Film drehen würde.

Wie finanzieren Sie Ihre Filme?

Bekanntlich ist die staatliche Filmförderung in punkto Geld sehr bescheiden. So muss ich eigenes Geld hineinstecken, vor allem aber hunderte von persönlichen Gesuchen an Private und Stiftungen richten, ein natürlich wahnsinniger Aufwand, wenn auch bis jetzt am Ende jeweils doch ein erfolgreicher.

Zu Ihrem neuesten Opus mit Titel «Fetish & Dreams»: auch dies ein Film, der von Einsamkeit und vom Versuch sie zu überwinden handelt…

Ja, am Anfang wollte ich eine Reportage, einen Dokumentarfilm über die Einsamkeit der Generation so zwischen 25 und 35 Jahren drehen. Die Recherchen zu diesem Thema ergaben, dass in keiner Stadt der Welt dieses Problem so offensichtlich existent ist, aber auch in keiner so viel darüber geschrieben wird, wie in New York. Also zogen mein Kameramann Rainer Klausmann, weitere Mitarbeiter und ich nach New York. Doch je mehr ich meinem Thema nachging, desto mehr erkannte ich, dass die Einsamkeit auch mein eigenes Problem war… Dazu kam, dass ich im Flugzeug nach Amerika eine Jazz-Pianistin aus Boston namens Michèle Rusconi kennengelernt hatte. Und je mehr ich mir über das Thema der Einsamkeit den Kopf zerbrach, desto dringender mein Wunsch, diese Frau suchen zu gehen, obwohl ich nur wusste, dass sie in Boston lebt… Mein Kameramann Rainer Klausmann zog mit mir, und so wurde diese Suche nach ihr Mit-Bestandteil des Films «Fetish & Dreams».

Interview: H. P. Häberli

Die Einsamkeit des S.G. – Ein Gespräch mit dem Zürcher Filmautor Steff Gruber, Der junge Kaufmann, Juni 1984.