Interview All About Photo 2024

Steff Gruber in an interview with Sandrine Hermand-Grisel
Translated from English. For the original interview click on the All About Photo logo below

September 25, 2024

Können Sie etwas über Ihre ersten Erfahrungen mit der Fotografie erzählen? Was hat Sie zu diesem Medium hingezogen?

Schon als ich vier Jahre alt war, nahm mich mein Vater mit ins Fotostudio. Mein Vater war damals als Grafiker für den Katalog des grössten Modeversandhauses der Schweiz zuständig. Ich durfte in der Garderobe zwischen den halbnackten Models, die mich schon damals faszinierten, mit den 120er Filmspulen der Hasselblad spielen, die die Fotografen benutzten. Seitdem verbinde ich Fotografie mit Technik und Erotik. Zwei Bereiche, die mich mein Leben lang begleiten sollten…

Was ist der beste Rat, den Sie am Anfang ihrer Laufbahn erhalten haben?

Meine Eltern haben mir schon als Kind geraten, mich bei der Berufswahl nicht von finanziellen Überlegungen leiten zu lassen. Sondern das zu machen, was man fühlt, was zu einem passt und was man wirklich machen will. Diesen Rat haben wir auch an unsere beiden Söhne weitergegeben (der Ältere ist Architekt geworden, der Jüngere hat Psychologie studiert, beides Berufe, in denen man, zumindest in den ersten Jahren, nicht viel verdient). Diesen Rat gebe ich auch gerne an junge Fotografen weiter: Wenn man etwas wirklich will, dann wird es auch funktionieren!

Wie schaffen Sie es, Ihre Zeit zwischen Ihrer Arbeit als Unternehmer, Filmemacher und Fotograf zu organisieren, und sind alle Aktivitäten für Sie gleich wichtig?

Das war mein ganzes Leben lang mein Hauptproblem und ist es immer noch: Warum hat der Tag nur 24 Stunden? Etwas boshaft und auch selbstkritisch sage ich jedes Mal: Hätte ich mich auf einen Beruf konzentriert, wäre ich erfolgreicher gewesen! Offensichtlich gehört es zu meinem Persönlichkeitsprofil, dass ich mich für verschiedene Bereiche interessiere. Ich war auch mein Leben lang Pilot und schreibe als Funker regelmäßig Artikel über die Ausbreitung von Radiowellen für eine Fachzeitschrift. Am glücklichsten bin ich allerdings als Fotograf. Dazu fällt mir eine Anekdote ein: Wenn Karl Lagerfeld nach seinem Beruf gefragt wurde, antwortete er immer: Fotograf! Und nicht Modedesigner, was er hauptberuflich gemacht hatte.

Living on Water, Tonle Sap Lake, Cambodia (c) Steff Gruber

Living on Water, Tonle Sap Lake, Cambodia (c) Steff Gruber

Living on Water, Tonle Sap Lake, Cambodia (c) Steff Gruber


Wie wählen Sie Ihre Themen und Motive aus? Ist das ein langer Prozess?

Bei meinen Spielfilmen bin ich als Autor und Regisseur Fragen nachgegangen, die mich persönlich beschäftigt haben: Wie funktionieren wir in Zweierbeziehungen oder warum ist das Verhältnis zwischen den Geschlechtern so schwierig? Bei den Dokumentarfilmen war es eher so, dass mich die Themen gefunden haben. Zum Beispiel hat mich der deutsche Regisseur Werner Herzog nach Afrika eingeladen, um einen Film über ihn und seinen Star Klaus Kinski zu machen.

In der Dokumentarfotografie, meiner heutigen Lieblingsbeschäftigung, interessieren mich Menschen und Gemeinschaften, die das Schicksal nicht so begünstigt hat wie zum Beispiel mich: In der Schweiz geboren und aufgewachsen, mit guten Bildungschancen, einem hervorragenden Gesundheitssystem und nie wirklich grossen finanziellen Sorgen, fühle ich mich äusserst privilegiert und bin auch dankbar dafür. Nun möchte ich vor allem unserer westlichen Welt zeigen, dass es Millionen von Menschen gibt, denen es nicht so gut geht. Mich beschäftigt vor allem das Thema der Vertriebenen. In Kambodscha zum Beispiel besuche ich seit Jahren regelmäßig solche Gemeinschaften und porträtiere sie. Ich spüre immer wieder, wie dankbar die Menschen sind, dass sich überhaupt jemand für sie interessiert, auch wenn wir ihnen nicht wirklich helfen können.

Finanzieren Sie Ihre Reisen oder werden Ihre Arbeiten in Auftrag gegeben?

Das ist eine berechtigte Frage! In der Tat sind meine Projekte sehr teuer. Das liegt daran, dass ich meine Fotoserien so produziere, wie ich früher Filme gemacht habe. Das fängt schon bei der Recherche an: Ich habe eine fest angestellte Wissenschaftlerin, Diana Bärmann, die von Zürich aus unsere Themen intensiv recherchiert, dokumentiert und im Vorfeld mitorganisiert. Mein langjähriger Produzent und Assistent Chris Jarvis, ein Kanadier, der fast sein ganzes Leben in Südostasien verbracht hat, reist jeweils ein bis zwei Monate vor mir an die Shooting-Locations und bereitet vor Ort alles vor. Er begeistert die Leute, findet lokale Fixer, Fahrer und Übersetzer. Er bucht Flüge und Hotels, mietet Autos, Boote und so weiter. Bei den Shootings sind wir also immer ein Team.
Erst in den letzten Jahren trägt der Verkauf der Fotoserien etwas zu den Produktionskosten bei. Die meisten Kosten bezahle ich mit einer anderen Leidenschaft: Ich erfinde Firmen- und Produktnamen, lasse sie schützen und verkaufe sie dann an Firmen. Zum Beispiel habe ich vor Jahren den Namen XBOX erfunden und an Microsoft verkauft, die ihn für eine Spielkonsole verwendet haben. Ich habe auch schon einen Namen an eine Firma von Elon Musk verkauft.

Warum arbeiten Sie hauptsächlich in Asien?

Das hat einen romantischen Hintergrund: Schon in meiner Jugend war ich von den Romanen von Graham Green, Rudyard Kipling und Margarete Duras begeistert. Manchmal denke ich, dass ich mit meiner Fotografie insgeheim versuche, den Spuren einer längst vergangenen Zeit zu folgen. Nicht, dass ich dem Kolonialismus nachtrauern würde, mir ist natürlich klar, dass viele der heutigen Probleme überhaupt erst durch den Kolonialismus entstanden sind. Aber wenn ich in Phnom Penh um drei Uhr morgens im Regen einen Rikschafahrer beobachte, der gegen den Sturm ankämpft, dann fühle ich mich in seltenen Momenten in die Zeit Indochinas zurückversetzt. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Ja, Südostasien, auch das neue, moderne, hat mich in seinen Bann gezogen!

Welches Land oder welche Menschen sind für Sie am prägendsten gewesen? Obwohl ich seit meiner Jugend nicht mehr oft dort war, sind es die USA. Als Zwanzigjähriger lebte ich ein Jahr in Athens, Georgia, besuchte dort auch Kurse an der Universität und war als Künstler Einflüssen ausgesetzt, die bis heute nachwirken. Das war vor allem die Künstlerszene um den Maler, Filmemacher, Fotografen und Professor Jim Herbert. Auf seiner Veranda traf ich Leute wie Cindy Wilson von den The B-52s, Silva Thin, der damals in Andy Warhols Factory arbeitete und uns oft in Athens besuchte. Dort lernte ich auch Bonnie T kennen, die eine begnadete Fotografin war. Von ihr habe ich viel über Porträtfotografie gelernt. Leider ist sie seit Jahren unauffindbar…
Ein Jahr bevor ich nach Athens ging, besuchte ich die Kunstschule in Zürich. Meine wichtigsten Fotolehrer dort waren Serge Stauffer und Peter Jenny. Serge war einige Jahre zuvor der Lehrer von Oliviero Toscani und vielen anderen Fotografen, die später Weltruhm erlangen sollten. In den späten Sechzigern und frühen Siebzigern passierte in Sachen Fotografie aussergewöhnlich viel, und das ausgerechnet im zwinglianischen, bilderstürmenden Zürich!

Genocide museum S-21 in Phnom Penh (c) Steff Gruber

Genocide museum S-21 in Phnom Penh (c) Steff Gruber


Ist Ihre Arbeit politisch?

Ich verstehe meine Arbeit durchaus als politisch, in der Dokumentarfotografie allein schon durch die Auswahl der Bildmotive, wie beispielsweise die Menschen, die auf einem Friedhof in Phnom Penh zwischen und auf den Gräbern leben. Hinzu kommen im besten Fall weitere Metaebenen. So sieht man zum Beispiel auf dem Bild einer Familie, ein Mädchen, das eine große Tüte Pommes Chips in den Händen hält. Eines der größten Probleme in der Dritten Welt (und zunehmend auch in einigen Ländern der westlichen Welt) ist die Ernährung: Vor allem Kinder ernähren sich zu einem großen Teil von Fast Food. Auf dem gleichen Bild sieht man ein anderes junges Mädchen in einem wunderschönen Kleid, das an eine Prinzessin erinnert. Man fragt sich, wie die Menschen hier, wo es ihnen an allem mangelt, zu so teuren Kleidern kommen. Dieses Phänomen ist mir überall in Südostasien aufgefallen. Ich erfuhr, dass westliche Hilfsorganisationen regelmäßig (gebrauchte) Kleidung vor den Armenvierteln deponieren. Solche und ähnliche Botschaften, die in meinen Bildern versteckt sind, verlangen natürlich vom Betrachter ein eigenes Engagement, er muss selbst recherchieren, wenn es ihn interessiert.
Das gefällt mir an der Fotografie: Im Gegensatz zu den meisten heute produzierten Dokumentarfilmen, in denen dem Betrachter «Gut» und «Böse» meist polemisch präsentiert werden, verlangt die anspruchsvolle Dokumentarfotografie vom Betrachter eine tiefere Auseinandersetzung. Auch wenn ich fast ausschließlich in Schwarz-Weiß fotografiere, lassen sich mit der Fotografie Geschichten erzählen, die nicht nur «schwarz-weiß» sind. Die Wahrheit liegt oft dazwischen. Auch Gut und Böse sind oft nicht einfach zu unterscheiden. Obwohl auch ich einen subjektiven Blick auf die Dinge habe (ich entscheide schon beim Ausschnitt, was der Betrachter sehen soll), fühle ich mich der Wahrheit verpflichtet.

Smor San, Phnom Penh, Cambodia (c) Steff Gruber


Was halten Sie davon, dass die neuen Kameras «fälschungssichere» Bilder produzieren sollen oder dass die Medien, Wettbewerbe etc. vom Fotografen das RAW-Bild verlangen, um zu überprüfen, dass nicht manipuliert wurde?

Diese Forderungen basieren auf einer diffusen Angst vor KI, einem magischen Akronym, von dem niemand so recht weiß, was es bedeutet…

Zu Ihrer Frage: Ich halte das für eine völlig falsche Entwicklung. Nicht nur, weil es bald einen «Hack» geben wird, wie man solche Maßnahmen manipulieren und umgehen kann, sondern auch, weil es von einem völlig falschen Wahrheitsbegriff ausgeht. Wie ich vorhin schon gesagt habe, kann man schon mit dem Ausschnitt manipulieren. Ein gutes Beispiel dafür gibt es in der Geschichte der Fotografie. Das berühmte Bild des vietnamesischen Fotografen Nick Ut, dass ein nacktes, vor Schmerz und Panik schreiendes 9-jähriges Mädchen zeigt, das aus einem von den Amerikanern mit Napalm bombardierten, vietnamesischen Dorf flieht, wurde vom Fotografen oder vom Bildredakteur nachträglich beschnitten, um den Blick des Betrachters auf dieses unermessliche Leid zu lenken. Man sagt, dieses Bild habe mit dazu beigetragen, dass der Vietnamkrieg kurz nach der weltweiten Publikation dieser Aufnahme beendet wurde. Eine Manipulation, die die schreckliche Realität dieses grausamen Krieges visuell vermittelt, ist meiner Meinung nach immer legitim. Es ist kompliziert mit der so genannten Wahrheit, und sie lässt sich mit Sicherheit nicht durch Technologie sicherstellen. Wie Bob Dylan einmal sagte: «The truth has many different levels!»

Die größte «Manipulation» ist die Entscheidung des Fotografen, worauf er seine Kamera richtet, und in der Bearbeitung, welche Bilder er für die Veröffentlichung auswählt und damit, was er zeigt und was nicht! Ich glaube, dass ein manipuliertes Bild unter Umständen der Wahrheit näherkommt als ein unbearbeitetes. Das sind für mich theoretische Überlegungen, denn ich gehöre noch zur alten Schule, für die Bildmanipulation in der Dokumentarfotografie ein Tabu ist. Aber nehmen wir einmal an, man macht ein Foto, auf dem im Vordergrund Kriegsverbrechen zu sehen sind und im Hintergrund Bombenabwürfe und eine brennende Stadt. Dieser Hintergrund wurde zum Beispiel fünf Minuten früher aufgenommen. Ändert dieses Bild nun die Aussage? Solche Fragen finde ich interessant… Das Bild mit dem «Napalm-Mädchen» von Nick Ut habe ich in meiner Sammlung, 50 Jahre nach der Flucht aus dem brennenden Dorf in Vietnam, signiert vom Fotografen und dem damaligen Mädchen (Phan Thị Kim Phúc, sie hat nach über 30 Operationen bis heute überlebt).
Für mich ist es sehr wichtig, die Bilder, die meine Arbeit beeinflusst haben, im Original zu besitzen…

Sie sind also auch Sammler?

Ja, ich betrachte die Fotografie als meinen Lebensmittelpunkt, und dazu gehört auch das Sammeln von Bildern meiner Kolleginnen und Kollegen. Meine Sammeltätigkeit folgt allerdings bestimmten Regeln: Die Bilder und / oder Fotograf:innen müssen in meinem Leben eine Rolle spielen oder gespielt haben. René Groebli hat mir zum Beispiel ein Bild geschenkt. René war als Freund meiner Eltern schon in meiner Jugend präsent. Aber ich habe auch Bilder von Jock Sturges, Sebastiao Salgado, David Yaron, Beat Presser, Nobuyoshi Araki, Daido Moriyama, Stefanie Schneider, Sarah Moon, Karl Lagerfeld, Louis Stettner, Jan Saudek, Ansel Adams, Bonnie T, Francesca Woodman, Larry Clark, Pierre Boucher, Mario Giacomelli, Bert Stern, Henri Cartier-Bresson, Robert Frank, Willy Ronis, Alfred Eisenstaedt, Josef Sudek, William Klein und viele mehr. Ich sammle auch historische Bilder, zum Beispiel von Lehnert & Landrock, die Anfang des letzten Jahrhunderts in Nordafrika aufgenommen wurden.

Railway Community, Phnom Penh, Cambodia (c) Steff Gruber

Railway Community, Phnom Penh, Cambodia (c) Steff Gruber


Zurück zu Ihrer aktuellen Arbeit: Könnten Sie uns zu Ihrem Projekt „Railway Community“ sagen, warum/wie Sie sich für dieses Thema entschieden haben?

In den Jahren 2009 bis 2014 habe ich in Kambodscha und Thailand den Spielfilm FIRE FIRE DESIRE gedreht. Auf der Suche nach Drehorten sind mein Produzent Chris Jarvis und ich zu Fuß durch jedes Viertel von Phnom Penh gegangen. Wir waren buchstäblich Tag und Nacht unterwegs.  Auf unseren Spaziergängen entdeckten wir auch viele interessante Orte, die wir damals für den Film nicht brauchten. Zum Beispiel Smor San, den Friedhof, der von den Vertriebenen besetzt wurde. Auch die Menschen, die auf dem Tonle Sap See leben, haben wir damals zum ersten Mal besucht. Erst als der Film fertig war, sind wir an diese Orte zurückgekehrt und haben begonnen, die Menschen zu porträtieren.

Wie sind Sie vorgegangen?

Meine Methode ist sehr komplex: Erstens arbeite ich immer mit einem Team und zweitens gehen wir nie nur einmal an einen Ort. Nur wenn man über Jahre hinweg regelmäßig dieselben Menschen besucht, kann man Vertrauen aufbauen. Und ich glaube, dass dieses Vertrauen der Menschen in meinen Bildern sichtbar wird. Wir werden auch immer wieder um Rat gefragt: Das sind manchmal ganz unerwartete Fragen wie: «Soll ich diesen Typen heiraten oder nicht?» Da wir die Menschen und ihre Alltagsprobleme sehr gut kennen, nehme ich mir dann die Freiheit, meine Meinung zu sagen. Ob sie dann unseren Rat befolgen, ist eine andere Frage…

Wie hat die Bevölkerung auf Ihre Kamera reagiert?

Da wir immer im Gespräch mit den Menschen sind, die wir fotografieren, sind die Reaktionen durchweg positiv.

Ist Ihre Arbeit manchmal gefährlich?

Das werde ich tatsächlich oft gefragt. Meine Antwort ist immer dieselbe: Nach unseren Erfahrungen, nicht nur in Südostasien, sondern auch in Afrika und Lateinamerika, gilt: Je ärmer die Menschen sind, desto freundlicher und hilfsbereiter sind sie. Ein Beispiel: Bei einem Shooting in einem Armenviertel in Phnom Penh bin ich bei fast 40 Grad Hitze aus der Hocke, in der ich mit der Kamera hantiert hatte, plötzlich aufgestanden und mit dem Kopf gegen ein messerscharfes Schild geprallt, auf das ich nicht geachtet hatte. Offensichtlich war ich für kurze Zeit bewusstlos, und als ich auf der Straße liegend wieder erwachte, sah ich mich von einer aufgeregt diskutierenden Menschenmenge umgeben. Inzwischen war auch einer meiner Mitarbeiter an der Unfallstelle eingetroffen. Wir stellten fest, dass meine Tasche und alle Kameras fehlten. Ich vermutete, dass ein Dieb die Gelegenheit genutzt hatte, um mit meinen Sachen im Gedränge zu verschwinden. Ich habe mich sofort damit abgefunden, da ich wusste, wie arm die Leute sind und ihnen innerlich schon verziehen. Zuerst musste ich mich sowieso um meinen blutenden Kopf kümmern. Nachdem ich Wasser bekommen hatte, mein Kopf notdürftig mit einem Tuch verbunden war und ich schwankend aufgestanden war, sah ich oben auf einer Treppe zwei kleine Mädchen sitzen, die jeweils eine meiner Kameras mit beiden Händen schützend auf ihrem Schoß hielten. Ich schämte mich für meinen ersten Verdacht… Um die Frage zu beantworten: Ja, es ist manchmal gefährlich, aber die Gefahr geht nie von den Menschen aus!

Wieviel Zeit haben Sie in Phnom Penh verbracht?

Seit 17 Jahren besuche ich Kambodscha regelmäßig jedes Jahr und Phnom Penh ist fast immer unser Basislager… Ich fühle mich dort genauso zu Hause wie in Zürich oder auf den Balearen, wo ich mit meiner Frau ein Haus besitze.

Tonle Sap Lake Community, Cambodia (c) Steff Gruber

Tonle Sap Lake Community, Cambodia (c) Steff Gruber

Tonle Sap Lake Community, Cambodia (c) Steff Gruber


Welche Schwierigkeiten hatten Sie zu überwinden?

Es gibt Länder, in denen professionell aussehende Kameras verdächtig sind. Ich erinnere mich, dass ich einmal, um die Grenze von Moldawien nach Transnistrien zu überqueren, die Kamera mit Gaffer Tape am Körper befestigt hatte und sie zusätzlich mit einer dicken Winterjacke zu verstecken versuchte. Am Zoll wurden wir dann komplett auseinandergenommen, meine Übersetzerin und mein Fahrer mussten sogar zur Leibesvisitation in ein Häuschen. Ich durfte, warum auch immer, beim Auto warten, das auch untersucht wurde. Mit einem Rollspiegel wurde es sogar von unten begutachtet. Richtig mulmig wurde es mir aber erst am nächsten Tag, zurück in meinem Hotel in Moldawien: Beim Frühstück erzählte mir ein OECD-Mitarbeiter die Geschichte eines BBC-Kameramannes, der beim illegalen Filmen in Transnistrien vom Geheimdienst erwischt worden war und dessen Leiche dann im Fluss Dnjestr treibend entdeckt wurde… Trotzdem bin ich noch einige Male mit der Kamera nach Transnistrien gereist. Rückblickend würde ich sagen, das war nicht sehr klug. Heute würde ich es sicher nicht mehr tun.

Was war für Sie die grösste Herausforderung?

Ein Nachtshooting in einem Schlachthof außerhalb von Phnom Penh. Wir hatten die einmalige Gelegenheit, eine Nacht lang beim Schweineschlachten dabei zu sein. Gegen den infernalischen Lärm hatte ich mich mit Ohrstöpseln geschützt, gegen den Gestank hatte ich mir gleich mehrere Gesichtsmasken über Mund und Nase gezogen. Das Visuelle war für mich nicht so schlimm (ich sah alles auf dem Schwarzweißmonitor der Nikon Mirrorless). Mein Assistent, übrigens Vegetarier, wollte nach dem Shooting kündigen. Ich musste ihm versprechen, dass wir so etwas nie wieder machen würden. Auch ich konnte mindestens einen Monat lang kein Fleisch mehr essen…

Slaughterhouse, Phnom Penh, Cambodia (c) Steff Gruber

Slaughterhouse, Phnom Penh, Cambodia (c) Steff Gruber


Welche Ausrüstung verwenden Sie?

Ich bin ein Technikfreak und würde nie den Satz sagen: «Auf die Kamera kommt es gar nicht an!» Das ist völliger Unsinn. Unsere Kameras sind Werkzeuge, und der Handwerker auf der Baustelle benutzt auch den besten Bohrer, den er kriegen kann, um seine Löcher zu bohren. Und um bei der Baustellen-Analogie zu bleiben: Zum Betonieren benutzt der Handwerker keinen Bohrer, sondern z.B. einen Verdichter, also ein ganz anderes Werkzeug. In der Fotografie ist es ähnlich: Für Reportagen benutze ich immer das Spitzenmodell der Firma Nikon. Alle zwei Jahre steige ich auf das neueste Modell um. Obwohl diese Kameras einen zusätzlichen Shutter haben, um den Sensor vor Staub zu schützen, wechsle ich im Feld nie das Objektiv. Viele meiner Kollegen lamentieren über die Vorteile von Festbrennweiten. Ich benutze für Reportagen ausschliesslich Zoomobjektive. Die Qualität der Nikkor-Objektive ist mittlerweile so gut, dass ich bezweifle, dass man einen Unterschied sieht… Der Nachteil dieser Kameras ist, dass sie groß und schwer sind. Deshalb haben wir immer eine Leica Q3 dabei. Die hat mir schon oft das Leben gerettet, zum Beispiel wenn ich, wie im vergangenen Januar in Mumbai, Indien, in einem engen Slum fotografieren musste. Die Gassen sind teilweise nur 5o Zentimeter breit. Für solche Situationen ist die Leica ideal, aber auch abends, wenn ich müde vom Schleppen bin.
Da das vorhandene Licht selten optimal ist, bringen wir fast immer unser eigenes mit. Tagsüber arbeiten wir meist mit großen Reflektoren, abends und nachts mit Led-Cine-Lights oder einer portablen Profoto-Blitzanlage.
Für meine Kunst- und Experimentalfotografie (ja, auch das mache ich) benutze ich so ziemlich alle Kameramodelle, die es gab und gibt; von der großformatigen Sinar, über diverse Polaroid-Modelle, Hasselblad, Rolleiflex, analoge Leicas und sogar meine erste analoge Nikon, die ich 1970 gekauft habe, kommt noch zum Einsatz. Manchmal fotografiere ich auch mit selbstgebauten Lochkameras.

Verbringen Sie viel Zeit mit der Bearbeitung Ihrer Bilder?

Ja, die Bücher von Anselm Adams haben auch bei mir ihre Wirkung gezeigt: Ich habe das «Zonensystem» verinnerlicht und brauche in Photoshop meist über eine Stunde pro Bild. Das geht nur, wenn man in RAW fotografiert, was ich immer konsequent mache.

Sie bringen mich auf die Frage nach der Theorie. Beschäftigen sie sich neben dem erwähnten Ansel Adams auch mit anderen Foto-Theoretikern?

Neben einer Bildbandbibliothek, die wahrscheinlich mehr als 2000 Bände umfasst, besitze ich alles, was je über Fotografie geschrieben wurde.  Ich schaue mir stundenlang die Fotografien anderer Fotografen an! Auch Kunstbildbände, zum Beispiel von Caravaggio und Rembrandt, sind sehr lehrreich.
Die Werke der großen Fototheoretiker und Philosophen lese ich meist mehrmals. Wie kann man ein gutes Bild machen, ohne die Gedanken eines Roland Barthes oder einer Susan Sontag zu kennen? Auch wenn ich nicht immer mit John Berger übereinstimme, muss ich wissen, was er über ein bestimmtes Thema denkt. Die Theorien von Philosophen wie Theodor W. Adorno, Walter Benjamin oder Ludwig Wittgenstein beeinflussen meine Sichtweise und meinen Umgang mit der Welt ebenso wie die Filme von Jean-Luc Goddard. Im Moment beschäftige ich mich mit dem Thema analog vs. digital, sowohl in der Aufnahme als auch im Druck.

Welches Kompliment hat Sie am meisten berührt, oder was betrachten Sie als Ihre grösste Errungenschaft?

Wenn mein Freund, der Fotograf Beat Presser, sagt: «Wow, das ist ja ein Henri-Cartier Bresson!» Scherz beiseite: Der Künstler lebt bekanntlich vom Applaus und so macht es mich glücklich, wenn manchmal eines meiner Bilder die Menschen berührt. Ich freue mich auch immer, wenn ich an einem Wettbewerb einen Preis gewinne oder Bilder für Ausstellungen ausgewählt werden. Früher haben mich Komplimente kalt gelassen, ich habe alles nur für mich gemacht. Wahrscheinlich werde ich langsam alt…

Tonle Sap Lake Community, Cambodia (c) Steff Gruber


Was sind Ihre nächsten Projekte?

Ich wollte im Januar 2024 in eines der größten Flüchtlingslager der Welt reisen, zu den Rohingya in Bangladesch. Alles war vorbereitet, inklusive Reise ins Lager, Bewilligungen usw. Dann bekam ich in Indien Covid und musste das Projekt verschieben. Vielleicht fahren wir doch noch dorthin. Auch nach Indien und Kuba würde ich gerne noch einmal fahren. Und natürlich nach Ghana, Afrika, wo ich seit 1987 nicht mehr war… Ich hoffe, dass ich wenigstens einen Teil meiner Projekte und Pläne noch verwirklichen kann. Auch Fotobücher und Magazine sind im Entstehen. Das erste «Voyage of Dreams» mit Bildern aus meiner Zeit in den USA 1974 und einem Vorwort des deutschen Kunsthistorikers Ulrich Schneider wird demnächst auf den Markt kommen.

Eine Anekdote, die Sie uns erzählen möchten?

Vor einigen Jahren nahm mich der Lehrer einer Dorfschule in der Nähe von Kampot im Süden Kambodschas auf seinem Motorrad mit, um mir seine Heimat zu zeigen. Wir kamen an einen See. Er hielt an und eine wunderschöne Landschaft tat sich vor unseren Augen auf und ich bemerkte, dass es mucksmäuschenstill war! Es war fast unheimlich und plötzlich fröstelte ich, obwohl es fast 40 Grad Celsius heiß war! Erschrocken wandte ich mich an meinen neuen Freund. Er erzählte mir, als er zwölf Jahre alt war, hätten die Schergen der Roten Khmer die Gegend unsicher gemacht. Tausende Menschen seien ermordet und in diesen See geworfen worden. Er werde nie den Geruch der verwesenden Leichen vergessen, der monatelang durch sein Dorf gezogen sei. Ich habe diese Landschaft fotografiert. Ich glaube, man kann die Tragödie auf dem Bild spüren.

Landscape, Cambodia (c) Steff Gruber


Was halten Sie von der Entwicklung der KI?

“The greatest thing since Peanut Butter” sagt einer meiner Protagonisten in meinem Kurzfilm BOYS ARE BOYS AND GIRLS ARE GILRS, den ich 1976 in Athens, Georgia gedreht habe. Allerdings auf die Frage: “Was hältst Du von Women’s Lib?”
Diese Frage kann ich nur differenziert beantworten: In der Schweizer Hightech-Medizin wird KI seit Jahren erfolgreich eingesetzt. Vor allem in der Diagnostik. Sogar mein Zahnarzt sagt, dass er bei mir eine versteckte Karies nur mit seinem KI-Programm gefunden hat. Um deutsche Texte stilistisch und grammatikalisch zu überprüfen, benutze ich oft das Angebot von deepl.com/write. Dieses Korrekturprogramm wird von Woche zu Woche deutlich besser. Ihre Frage zielt aber sicher auf die Bildgestaltung ab. Und da hält sich meine Begeisterung in Grenzen. Was mich stört, sind nicht die noch fehlenden technischen Möglichkeiten (auch die werden von Woche zu Woche besser), sondern dass die Macher hinter ChatGPT und Co. uns ihre Moral aufzwingen wollen. Haben Sie schon einmal versucht, ein (im wahrsten Sinne des Wortes künstlerisches) Aktfoto zu bearbeiten oder zu erstellen? Im Bruchteil einer Sekunde wird man zurechtgewiesen und unter Hinweis auf die Nutzungsbedingungen sofort mit Ausschluss bedroht. Früher hätte ich gesagt, das ist die perverse, reaktionäre Moral einiger US-amerikanischer religiöser Fundamentalisten. Heute weiß ich natürlich, dass es in solchen Fragen bereits einen globalen Konsens gibt. Ich finde dieses Verhalten der KI-Firmen sehr bedrohlich und macht mir Angst, weil es zeigt, dass immer mehr Firmen und Regierungen nicht nur meine künstlerische Freiheit einschränken, sondern auch in mein Denken eingreifen wollen. Warum stört das niemanden außer mir? Ich bin davon überzeugt, dass es unsere Aufgabe als Künstler ist, uns gegen die «Political Correctness» zu wehren, die heutzutage alles miteinbezieht und einschränkt, und auch gegen eine Moral, die uns immer mehr bevormundet.

Möchten Sie noch etwas hinzufügen?

Vielen Dank für das Interesse an meinen Bildern und die Möglichkeit einer Soloausstellung auf ihrer Plattform, es war mir eine Ehre!

Theravada Buddhist Monastery, Cambodia (c) Steff Gruber

Theravada Buddhist Monastery, Cambodia (c) Steff Gruber