Beim nachfolgenden Text handelt es sich um überarbeitete Ausschnitte aus einem Interview, das Christopher Jarvis anlässlich eines Gesprächs über Film und Fotografie mit Steff Gruber geführt hat. Steff Gruber hat dieses transkribiert und die Stellen, die sich direkt auf seine Arbeit als Fotograf bezogen extrahiert und wo nötig gekürzt oder ergänzt.
Im
Jahr 2020 soll zum ersten Mal ein Teil ihrer Fotografien öffentlich
ausgestellt werden. Weshalb haben sie bisher nie etwas von ihrer
fotografischen Arbeit gezeigt?
The same question could be asked about my films, which were sometimes shown, but with a few exceptions, only shown late in the evening on television and otherwise only to a very hand-picked audience. The reason is that I find the pictures (and films also, by the way) to be intimate creations. I really took the pictures just for myself. I never wanted to be famous. I'm very private about this. How could I compete with «the greats» of photography? The fact that I'm now sharing my work has to do with the fact that I'm noticing that I'm getting older. Remembrance of Times Past, could be the title of the exhibition: I'm looking back. At the beginning of the year I said to my long-time assistant: «My God, such a long life, and I haven't done anything!» She only laughed and referred to about 2000 pages, including scripts, short stories, essays, professional articles and poems. All of this material is largely unpublished. When I told her that there were still a few thousand photos left, we decided together to start digitizing them.
Wie
sind sie zur Fotografie gekommen?
Schon als kleiner Junge, so als Vier- bis Sechsjähriger, war ich öfters mit meinem Vater, der Modekataloge für Versandhäuser gestaltete, in den Fotostudios der Modefotografen H.P. Mühlemann und E.T. Werlen. Ich spielte mit den leeren 120er-Filmrollen der Fotografen und schaute den Modellen beim Umziehen zu. Diese frühe «Erotisierung» hat mich und mein Leben wesentlich geprägt. Schon damals war für mich klar, dass ich einmal Fotograf werden würde. Als meine Eltern noch gut miteinander auskamen, drehten sich fast alle Gespräche um Gestaltung; ob etwas oder jemand schön sei, schien das einzige wichtige Kriterium zu sein. Mein Vater zitierte zu diesem Thema gerne Nietzsche mit Sätzen wie: «Nur ästhetisch gibt es eine Rechtfertigung der Welt». Meine Vorbilder waren damals die Freunde meiner Eltern, zu denen auch die Fotografen Walter Läubli und René Groebli zählten.
Während der Sekundarschulzeit arbeitete ich als Hilfsarbeiter in der Druckerei Conzett & Huber, wo damals das renommierte Kulturmagazin DU gedruckt wurde. Ich sparte für meine erste Kleinbildkamera. Nach ca. 400 Stunden Rollenwaschen war es dann 1968 soweit: Das Geld reichte für eine Nikon F1 mit einem 50mm-Objektiv. Per Anhalter reiste ich 1970 durch Skandinavien zum Nordkap, wo meine erste Reportage über das Leben der Lappen entstand. Diese brachte mir einen Job bei der Fotoagentur Keystone Press in Zürich ein, wo ich Persönlichkeiten wie Joan Baez, Klaus Kinski, Bruno Ganz, Milva und Patty Smith portraitieren durfte. Als ich jedoch den Auftrag bekam, ein Fussballspiel zu fotografieren gab ich den Job auf; ich wusste, dass ich Kunst machen wollte und keine Gebrauchsfotografie.
Fotografie
und Film sollten in ihrem Leben Selbstzweck bleiben, also nie zum
Geldverdienen eingesetzt werden…
Actually, photography and especially my films have saved my life many times. This may sound a bit theatrical, but it comes pretty close to the truth. The camera, used as a tool of personal transformation, certainly replaced the psychiatrist's couch in some cases. I had to and still have to first photograph the environment around me in order to understand it.
Sie
haben einmal gesagt, dass sie jedes ihrer Bilder in einem
fotogeschichtlichen Zusammenhang sähen und bei jedem Bild, meist
bereits während des Drückens des Auslösers, an eines ihrer
fotografischen Vorbilder denken würden…
Jetzt habe ich einen Henri Cartier-Bresson gemacht oder einen Werner Bischof! [lacht] Natürlich war es nie so gut wie das Original. Egal was du heute machst, jemand vor dir hat es schon einmal gemacht. Nur selten gelingt es mir, in lichten Momenten, ein Bild zu machen, von dem ich glaube, dass es so gut ist, wie das von einem grossen Fotografen in einer ähnlichen Situation fotografiert. Diese Glücksmomente geniesse ich dann sehr.
In der Filmerei hatte ich es wesentlich einfacher. Damals, in den 1970er- und 1980er Jahren, hatte die Fachwelt genaue Vorstellungen, wie man Film machen muss. Niemand hatte es gewagt, zum Beispiel genre-überschreitende Filme zu realisieren. Als ich dann mit Moon in Taurus and Fetish & Dreams so-called docudramas (the term didn't exist at that time, it was introduced later by Wim Wenders) at the festivals and in noteworthy cinemas, I found a receptive audience...
You won a prize at the Locarno Film Festival with Fetish & Dreams...
Ja, und Werner Herzog lud mich ein, einen Film über ihn und Klaus Kinski in Ghana zu drehen. Auch sogenannte Making-Of-Filme gab es damals noch nicht. Also war ich auch in diesem Genre einer der ersten.
Fetish & Dreams war auch der erste Kinofilm in Europa, der ausschliesslich auf Video gedreht wurde. Das Verfahren, das Videoband auf 35mm-Film zu transferieren, damit der Film im Kino gezeigt werden konnte, musste ich selbst erfinden, weil ich die Preise der einzigen Firma, die diesen Service anbot (Imagetransform, Los Angeles), nicht bezahlen konnte.
Haben
es junge Filmemacher heute schwieriger, sich zu etablieren?
Die Filmbranche hat sich in den letzten Jahren völlig von der Kunst und dem Experiment wegentwickelt. Niemand würde es heute wagen, etwas «am Markt vorbei» zu realisieren, ausser meiner Wenigkeit. [lacht] Alles muss genauen Regeln folgen. Das fängt schon damit an, dass Regisseure meist ihre Drehbücher nicht mehr selbst schreiben und schon gar nicht produzieren dürfen. Das Autorenkino ist längst gestorben und wird mit seinem letzten noch lebenden Repräsentanten Jean-Luc Godard vollends von der Bildfläche verschwinden.
In der Fotografie ist das jedoch völlig anders. Wenn sie zum Beispiel die neuesten Trends in der Modewelt verfolgen, sehen sie, dass Experimentieren durchaus erwünscht ist. Kürzlich sah ich im Modemagazin Bolero eine Fotostrecke von Kipling Phillips. Er fotografierte seine Modelle inmitten des Strassenlebens von Marrakesch. Das verursachte Verkehrschaos; Frauen und Männer verdrehten ihre Köpfe, um die auffälligen Modelle zu betrachten. Die Interaktion ist nicht nur Hintergrund, sondern gleichwertiges Thema. Da bin ich direkt etwas neidisch geworden, die Idee hätte von mir sein können…
Die Aktfotografie wurde neben den Portraits und Reportagen ein wichtiger Teil ihres fotografischen Werkes. Wie stehen sie heute dazu?
In my youth it was my secret dream to become a so-called «girl photographer». I wanted to be better than David Hamilton or Jacques Bourboulon, whose pictures I actually found kitschy. Much more my style were the nudes of Irina Ionesco. The term «girl photographer», by the way, had a completely different meaning or more accurately, a different connotation at that time; no insinuation of anything inferior, no condescendence. On the contrary, many of the photographers of the period took nude pictures of young girls and were proud of it.
Hamilton
und Bourboulon haben ausschliesslich Bilder von adoleszenten Mädchen
gemacht, also nicht von erwachsenen Frauen wie z.B. Jeanloup Sieff
oder Bettina Reims. Da sehe ich einen Unterschied…
Heute besteht diesbezüglich ein klarer Unterschied, da gebe ich ihnen recht. In den 1970er Jahren waren diese Grenzen verwischter und man durfte so ziemlich alles ausloten, was man wollte. Damals wusste man auch, dass man nicht am Tag des achtzehnten Geburtstags erwachsen wird. Uns war klar, dass gewisse Leute bereits mit 14 über sich bestimmen konnten und andere vielleicht erst mit 21. Die Übergänge wurden als fliessend wahrgenommen und Gesetze, die uns sagen sollten, was wir zu tun haben, haben wir ganz einfach ignoriert. Das war nicht nur in der Fotografie so, sondern auch in der Literatur… und anderen Bereichen des Lebens…
You think of Nabokov...
Ja, zum Bespiel oder an Curd Götz und seine wunderbare Novelle Tatjana, ein Buch, dass heute nicht mehr geschrieben und publiziert werden könnte.
Und
wenn wir gerade bei diesem Thema sind: Ich trauere dieser Zeit nach.
Unsere heutige Sicht der Dinge verunmöglicht vieles. Vor allem
werden alle romantischen Vorstellungen bereits im Keim erstickt. Ich
will nicht verstehen, was daran falsch sein könnte z.B. ein
adoleszentes Mädchen nackt zu fotografieren. Immer vorausgesetzt,
dass dies im gemeinsamen Einverständnis aller Beteiligten passiert,
in erster Linie dem Mädchen selbst und natürlich dessen Eltern.
Das ist natürlich heute ein absolutes No-Go. Vermutlich werde ich schon für meine diesbezüglichen Gedanken und Reflexionen verurteilt. Das heutige Schwarz-Weiss-Denken geht mir gewaltig auf die Nerven. Nicht jeder, der solche Bilder machen würde, ist automatisch ein Verbrecher und somit eine Bedrohung für die Gesellschaft. Auch verleiten gemäss einer Studie von Dr. Beyer an der Charité in Berlin die Bilder von Hamilton etc. Männer nicht zu Verbrechen an Kindern. Das ist genauso absurd, wie wenn man sagen würde, dass die Romane von Vladimir Nabokov oder Henri de Montherlant dies täten. Übrigens: die Bildbände Hamiltons sind die meistverkauften Fotobücher in der Geschichte. Er ist der meistpublizierte Fotograf aller Zeiten. Jedes seiner Bücher erreichte Millionenauflagen. Gerade in der heutigen Zeit wäre es einmal angebracht darüber nachzudenken, weshalb dies so ist.
A lot of terrible things have come to light in recent years. I'm thinking of child abuse cases in the Catholic Church…
Das ist mir alles klar und «The Times They Are a-Changin’», um Bob Dylan zu zitieren. Das weiss ich alles. Trotzdem kann ich doch sagen, dass wir etwas vermissen, wenn wir z.B. die Schönheit von jungen Mädchen nicht mehr wahrnehmen dürfen.
Was
genau ist es, was wir diesbezüglich vermissen? Es gibt sicher genug
erwachsene Frauen, die sich gerne fotografieren lassen…
Das habe ich mich natürlich auch gefragt. Wo liegt die Magie eines Bildes von Jock Sturges oder von Sally Man? Beides übrigens Fotografen deren Mädchenbilder unter anderem im Museum of Modern Art in New York hängen. Persönlich denke ich – und ich kann schon deswegen niemanden zitieren, weil allein schon der Diskurs zu diesem Thema das grösste Tabu in der heutigen Welt darstellt – dass der Mensch nur einmal und nur für ganz kurze Zeit wirklich schön ist. Und kommen sie mir nicht mit «alte Leute können doch auch wunderschön sein», das weiss ich nämlich nur zu gut. Ich durfte vor Kurzem meinen Freund, den Künstler, Filmemacher und Fotografen Jürg Hassler (80) für seinen Ausstellungskatalog im Tinguely-Museums in Basel fotografieren. Jürg ist ein wirklich schöner Mann. Nur auch er zerfällt, wie sie und ich. Und zwar von Minute zu Minute. Mit der Fotografie haben wir zum ersten Mal in der Kulturgeschichte der Abbildung ein Mittel in der Hand, diesen (natürlichen) Zerfall zu stoppen. Bei den jungen Mädchen ist dieser (biologische) Höhepunkt der Schönheit bei etwa dreizehn Jahren, wenn wir Nabokovs Theorie über die Nymphen glauben wollen. Diesen speziellen nymphenhaften Zustand, will Nabokov wissen, haben nur ganz wenige Mädchen. Dies ist eine Veranlagung, die in neuester Forschung auch den Mädchen im Zusammenhang mit dem sogenannten «Poltergeist-Phänomen» zugesprochen wird. Wunderschön in Szene gesetzt in einer der Schlussszenen im Film Stalker. von Andrej Tarkowskij: die dreizehnjährige Tochter des «Stalkers» bewegt ein Milchglas über den Tisch, ohne dieses zu berühren…
That's fiction...
Vielleicht…
[lacht]
Jock Sturges und Sally Man habe ich damals noch nicht gekannt, ansonsten wären vermutlich sie meine Vorbilder geworden. Warum ich diesen Traum, Mädchenfotograf zu werden, nie verwirklicht habe, weiss ich auch nicht so genau. Vermutlich, weil ein realisierter Traum kein Traum mehr ist, wie bereits Georges Bataille in meinem Geburtsjahr, in Der heilige Eros bemerkte.
Auf jeden Fall bin ich nicht «Mädchenfotograf» geworden und dies ist aus heutiger Sicht vielleicht ein Segen… Auch denke ich, dass mein Film Passion Despair, der den Schweizer Fotografen Daniel Leuenberger portraitiert, der in Moldawien lebt und dort junge Mädchen fotografierte, mich ernüchtert hat. Die Vorstellung der Jungmädchen-Fotografie hatte bei mir vor allem damit zu tun, gedanklich in meine Vergangenheit, zu den Mädchen meiner Jugend, zu reisen. Nach dem Motto: «Ursprung ist das Ziel», so oder so ähnlich hat es Karl Kraus einmal formuliert. Dieser verklärte Blick auf die Mädchen meiner Jugend hat sich mit der Zeit wesentlich relativiert und verändert. Ich würde mich heute, gelinde gesagt, seltsam fühlen, wenn ich Portraits à la Hamilton machen müsste…
Mein Interesse für Akte hatte, neben meinen Kindheitserlebnissen in den Umkleideräumen der Fotostudios meines Vaters, vor allem auch mit einem einschneidenden Erlebnis zu tun. Dieses hatte ich mit etwa zwölf Jahren, anlässlich einer Zugreise mit meiner Mutter von Zürich nach Mailand. Während der ganzen dreistündigen Reise sass ich vis-à-vis einer wunderschönen jungen Frau. Ich hatte mich zum ersten Mal so richtig verliebt. Die Frau, die etwa die Figur eines Mädchens in meinem Alter hatte, trug ihre Bluse offen und so konnte ich während der ganzen Reise ihre kleinen Brüste sehen. Sie bemerkte mein fasziniertes Starren und rückte von Zeit zu Zeit halbherzig ihre Bluse zurecht. Sie begann auch ein Gespräch, allerdings auf Englisch, was ich damals noch nicht konnte. So antwortete ich auf Deutsch und die Reise ging wie im Flug vorbei. In Mailand stand sie auf, ergriff ihre Tasche und küsste mich auf die Wange. Dann verliess sie eilend den Wagon. Auf dem Bahnsteig warteten mehrere Fotografen und hüllten meine Traumfrau in ein Blitzlichtgewitter. Am nächsten Tag zeigte mir meine Mutter eine Zeitung. Auf der Frontseite war sie. «Das englische Mannequin Twiggy besucht Mailand», stand dort in grossen Lettern. Noch Jahre hing das ausgeschnittene Zeitungsfoto in meinem Kinderzimmer, bis es dann von Schönheiten aus den deutschen Magazinen Konkret and Twen abgelöst wurde.
How important is technology to you?
For a long time I followed in my father’s footsteps. I admired his drawing and painting skills and thought that painting could also become my means of expression. But I soon found out that I wasn't nearly as gifted as he was. Unlike myself, he had great resistance to technology. He couldn't even replace a light bulb. By contrast, as a child I had already repaired the vacuum cleaners, radios and hairdryers of half the village. It was obvious that photography and film would become my medium. The understanding of optics, mechanics, electronics and chemistry in the photo lab were in me in the cradle. I didn't need any schools or courses. I just had to look at things and I knew how they worked and how to deal with them. In the course of my life I owned every camera I could find: from the Nikon, Leica, Hasselblad, Rolleiflex, Mamiya, and Polaroid to the large format cameras from Sinar and also homemade pinhole cameras. In the 1970s I was probably one of the first to take colour pinhole photos and in the early 1980s the first to take digital pinhole photos.
Fotografie ist in erster Linie Technik. Trotzdem sind die Bilder von reinen Technikern meist langweilig. Es fehlt ihnen das «Punctum», wie Roland Barthes sagen würde. Oder wenn überhaupt, entstand es nur zufällig. Der Moment, in dem man ein gutes Bild schiesst, ist ein magischer. Ja, man könnte auch sagen ein erotischer. Und dabei meine ich nicht ausschliesslich die Aktfotografie. Die Erotik beginnt schon beim Verhältnis, welches ich zur Kamera habe. Eine Kamera muss nicht nur technisch gut sein, nein, sie muss auch schön sein. Für mich gehört eine gehörige Portion Technikfetischismus dazu. Ansonsten macht mir die Fotografie keine Freude. Dann ist ‘das Wissen’, und die damit verbundene Erregung, wann ich abdrücken muss, durchaus ein erotischer Moment. Mich erstaunt, dass in ihren wunderbaren Essays weder Susan Sontag in On Photography noch Roland Barthes in La chambre clair darauf gekommen sind. Der Akt des Fotografierens hat auch immer etwas Voyeuristisches, auch wenn man eine Landschaft fotografiert. Oder wie der französische Meisterfotograf Jeanloup Sieff einmal beschrieben hat:
«Da das «Flore» Betriebsferien hat, sitze ich auf der Terrasse des «Deux Magots». Mit allen Frauen, die vorbeigehen, erlebe ich kurze, aber vollständige Liebschaften. Wenn ich sie von weitem erkenne und ihre Silhouette mir gefällt, beginnt unsere Idylle sofort. Je näher sie kommen, desto mehr liebe ich sie. Noch zehn Meter: Leidenschaft, noch sechs: schmerzhafte Eifersucht, noch vier: ich kann nicht mehr, jetzt beginnt bereits der Trennungsschmerz, und wenn sie auf meiner Höhe vorbeigehen, erlöst und entspannt, kann ich ihnen ruhig zulachen, wir sind Freunde geworden und können dieses augenzwinkernde Einverständnis derer austauschen, die viele Dinge gemeinsam erlebt haben und sich erinnern…»[Jeanloup Sieff (Tagebuch, 1986)]
Sieff did not photograph this experience...
Genau! Das ist also auch ihm passiert und passiert vermutlich jedem Fotografen. Die besten Bilder habe ich gar nicht gemacht! Ich erinnere mich an so manche Situation, in der ich das fertige Bild schon vor Augen sah, jedoch keine Kamera dabeihatte oder aber sogar eine Kamera da war, ich aber aus irgendeinem Grund nicht fotografieren konnte. Das erste Bild der «nicht gemachten Bilder» ist natürlich Twiggy. Dann erinnere ich mich (und verfluche mich noch heute) an ein Mädchen namens Nadja (André Breton lässt grüssen) am Lago di Viverone, circa 1980. Nadja war etwa zwischen 13 und 15 Jahre alt, eine blonde Italienerin, das schönste Mädchen der Welt. Nicht nur die Männer haben sie angestarrt, auch alle Frauen waren von ihr begeistert. Meine damalige Freundin war ebenfalls völlig hingerissen. Ich hatte meine Nikon dabei. Weshalb habe ich sie nicht fotografiert? Es gibt ihn, den ‘photography block’, ganz ähnlich wie den ‘writer’s block’. Ich konnte einfach nicht. Nadja war irgendwie heilig. Und dann gab es diesen gigantischen, liegenden, goldenen Buddha, der auf einem Tieflaster durch Phnom Penh gezogen wurde. Auch ihn habe ich nicht fotografiert, obwohl ich die Kamera dabeihatte. Ganz extrem empfand ich eine Situation an einem der Wasserfestivals, die ich jährlich in Kambodscha besuchte: Inmitten der Menschenmassen wurde eine Person auf einer Bahre ausgestellt. Sie hatte einen Kopf mit einem Durchmesser von ungefähr einem Meter und starrte mit stierem Blick auf die Leute. Die meisten Passanten zückten ihre Handys und fotografierten den armen Menschen erbarmungslos. Ich hatte meine Kamera in der Hand und konnte das Foto nicht machen. Es hätte so viel über die kambodschanische Gesellschaft ausgesagt. Aber, wie gesagt, ich konnte nicht. Auch habe ich die an Händen und Füssen gefesselten exekutierten Black Tiger-Anhänger in Sri Lanka, welche 1987, nach dem Einmarsch der indischen Armee anderntags am Strassenrand lagen, nicht aufgenommen. Die verstörenden Bilder von sterbenden und toten Flüchtlingen, die Sebastião Salgado 1994 in Ruanda aufgenommen hatte, hätte ich nie machen können. Es ist ein Segen für die Menschheit, dass er damals dort war, diese Arbeit gemacht hat und diese Obszönitäten für immer auf Film gebannt und dem kollektiven Vergessen entrissen hat. Ich hätte auch nie Kriegsreporter werden können…
Many of your pictures would be called Street Photography today. How do you feel about this movement, which is currently making a comeback in the photography scene?
Ja, das ist richtig. Nur kannten wir 1970 diesen Begriff noch nicht… Auch meine Filme sind eigentliche «Street Photography»-Filme. Vor allem die letzten, bei denen ich die Kamera selbst geführt habe. Historisch gesehen waren die ersten Fotografen Street Photographers und nicht ausschliesslich Porträtisten, wie man öfters liest. Nadar, Alfred Stieglitz, Walker Evans, Diane Arbus, um nur ein paar zu nennen. Auf der anderen Seite bin ich doch kein richtiger Street Photographer. Ich arbeite zwar am liebsten in den Strassen von Grossstädten, aber ich mache ganz selten Schnappschüsse. Da ich fast nie ein Zoomobjektiv dabeihabe, also nur (meist weitwinklige) Festobjektive benutze, muss ich nah an die Leute ran. Ohne zu fragen oder ohne Interaktion mit den zu Fotografierenden geht also gar nichts. Paul Watzlawick hat einmal gesagt: «Die sogenannte Wirklichkeit ist das Ergebnis von Kommunikation». Diese Aussage nehme ich wörtlich. Den meisten Leuten gefällt das; ich bringe sie in einen Zustand, in dem sie von mir fotografiert werden wollen. Sie können sich so auch in die Pose bringen, in der sie denken, dass sie am besten aussehen.
Als ich zum Beispiel 1975 alleine in das Schwarzenviertel Watts in Los Angeles fuhr und am Abend in meiner WG davon erzählte, haben sich alle gewundert, dass ich noch lebe. Niemand hat mir geglaubt, dass ich die Leute dort portraitiert hatte. Was war also mein Trick? Erstens hatte ich ausser der Nikon nichts dabei, nicht einmal eine Uhr. Zweitens hatte ich eine sehr auffallende rote Mähne, die mir bis unter den Gürtel reichte. So blass und grell rot muss ich auf die Bevölkerung extrem exotisch gewirkt haben, sodass sie mich als Aussenseiter akzeptiert haben. No Problem.
Natürlich lässt sich das nicht reproduzieren und man kann das auch nicht willentlich herbeiführen. Bei meinen Filmen öffnen sich mir auch Leute, die normalerweise nie über sich reden, schon gar nicht vor der Kamera. Ich denke, dass die Leute spüren, dass ich sie nicht verarsche und, sehr wichtig, dass ich mit meiner Arbeit keinen Profit erwirtschaften will. Sie spüren, dass ich mich echt für sie und ihr Schicksal interessiere und vor allem, dass ich meine Arbeit machen muss; aus einem inneren, fast pathologischen Drang heraus. Widerrede ist zwecklos, sie geben auf.
Früher, als ich noch Aktaufnahmen machte, war das genau dasselbe. Ich habe nie jemanden überzeugen müssen. Jemand den du zuerst überreden musst, gibt einen schlechten Film-Interviewpartner oder ein schlechtes Fotomodell ab. Mehr als einmal ging die Initiative vom Modell aus; oder vom Boyfriend oder der Mutter des Modells, welche die Idee irgendwie aufregend fanden.
In Kuba ist mir folgende Geschichte passiert: Ich ging in einer engen Gasse in Havanna an einem Haus vorbei und sah, wie sich eine junge Frau vor dem Spiegel die Haare zu einem Pferdeschwanz band. Ich zückte die Kamera und wollte abdrücken. Sie bemerkte mich jedoch. In diesem Moment liess sie das noch nicht zugeknöpfte Hemd fallen und schaute mit nacktem Oberkörper aus dem Fenster. Ich machte in der Folge ein paar Aufnahmen, daraufhin schloss sie das Fenster. Die ganze Geschichte hatte nicht einmal eine Minute gedauert. Ich entfernte mich. Plötzlich hörte ich die Frau rufen. Ich drehte mich um. Sie rief: «Heute ist mein fünfzehnter Geburtstag.». Danach schloss sie den Fensterladen endgültig. Zuerst dachte ich, dass sie ein Geschenk wollte oder ein Honorar. Dem war jedoch nicht so, das Fenster blieb geschlossen. Am Abend habe ich meinem Freund, einem Ethnologen, die Geschichte erzählt. Er hatte folgende Erklärung für das Verhalten der jungen Frau: Er sagte, in Kuba läge das Schutzalter bei 15 Jahren. Die meisten Mädchen würden dann zum ersten Mal mit ihrem Freund Sex haben. Vermutlich hätte sie gerade keinen Freund gehabt und das Zur-Schau-Stellen ihrer Brüste sei ein stellvertretender Akt gewesen…
Als
Kind waren sie bei der Arbeit ihres Vaters öfters mit Modefotografie
konfrontiert. In der Modefotografie wird, wie in keinem anderen
fotografischen Genre, alles inszeniert und die Modelle werden zu
Kleiderständern degradiert.
Never tell that to the models, because they don't see it that way. [Laughs] And yes, fashion photographer might have been an ideal job for me. Virtually a perfect fit. But life isn't always seamless. And when asked about my father's fashion catalogues, I have to admit, of course, that most of the models actually did have to function as live clothes hangers. By the way, I was also a model in my father's catalogues. Did I tell you that? My freckles were in demand. I received 50 francs per half day. A fortune, since we children had twenty centimes a week allowance back then. Fashion photography is probably the last and only way to make really great art today! The famous photographers today not only determine the sets and locations, they also say which models they want to have. The better known the photographers are, the more expensive models they can wish for. You can see this on the relevant Youtube channels and on Fashion TV. I like to watch these and other shooting reports on YouTube. And I am happy about the creative ideas and the wonderful photos. I'm always amazed. If I had such budgets and such opportunities, I would want to say something, tell something to the world. Not so in the fashion world. Meaning and form seem to have nothing to do with each other...
Die Ikonen der Fotogeschichte erzählen immer eine Geschichte. Sie ist nicht immer im Bild direkt sichtbar, die Geschichte kann sich auch ausserhalb des Cadres abspielen; man errät oder spürt sie. Ein Beispiel ist das weltberühmte Bild von Henri Cartier-Bresson, bei dem man durch eine von einer Granate zerschossen Hauswand auf spielende, notabene fröhliche Kinder schaut. Eines der Kinder trägt einen Gips und Bandagen (das Punctum, würde Barthes sagen). Auch dieser Junge lacht. Dieses Foto erzählt gleich auf mehreren Ebenen eine Geschichte. Und es macht, obwohl es so fröhlich daherkommt, unglaublich betroffen. Es ist eine Anklage gegen den Krieg. Die Metabene ist wichtiger, als das, was man auf Anhieb sieht. Fotos von dieser Qualität und Stärke gibt es nur ganz wenige. Dazu gehört natürlich auch das nackte, weinende, neunjährige, vietnamesische Mädchen des vietnamesischen Fotografen Nick Ut, das aus dem mit Napalm zerbombten Dorf flieht. Dieses Schwarz-Weiss-Bild hat zusammen mit einem anderen Bild aus dem Vietnamkrieg, Eddie Adams «Saigon Execution», das die Exekution eines jungen Vietcong-Soldaten durch einen südvietnamesischen Offizier zeigt, zum Ende des Vietnamkrieges beigetragen. Da kommen mir noch heute die Tränen, wenn ich diese Bilder sehe.
In jedem Genre gibt es solche Bilder, die man einmal sieht und nie mehr vergisst. Ikonen eben. Im Surrealismus sind es die Bilder von Man Ray, in der Aktfotografie die Bilder von Nobuyoshi Araki.
Araki
wäre dann das pure Gegenteil von David Hamilton…
…absolut. Hier wird nicht weichgezeichnet. Die Bilder sind brutal offen. Sie haben zwar ebenfalls nichts mit Realität zu tun; alles ist inszeniert. Ob die dargestellte Situation in der Realität auch stattgefunden haben könnte, ist für die Qualität der Fotografie völlig unwichtig; Fotos haben selten etwas mit der Realität zu tun. Alle meine Fotos sind inszeniert. In manchen Fällen werden sie tagelang vorbereitet und die Leute zur vorher recherchierten oder sogar manipulierten Location gebracht. Manchmal habe ich nur ein paar Sekunden Zeit fürs Inszenieren, wie zum Beispiel bei dem Bild meines marokkanischen ‘Engels’. Auf dem Bild sieht man eine marokkanische Mutter, die einen Säugling in einem Tuch auf dem Rücken trägt. Ihr etwa 8-jähriger Junge steht neben ihr. Als sie bemerkt, dass ich die Kamera auf sie richten will, realisiert sie, dass ihr Umhangtuch nicht schön auf ihren Schultern liegt. In einem entschlossenen Schwung will sie dieses neu platzieren. Im Moment, als das Tuch wie Engelsflügel aussieht, drücke ich ab. Das Bild erinnert mich an die Engelsstatuen, welche ich auf dem Friedhof von Havanna fotografiert habe. Ich sollte die beiden Bilder zusammen montieren, wie in einigen Bildbänden von Araki.
Ein anderes Beispiel sind die, mit gefundenen alten Schallplatten spielenden Kinder in den Strassen von Havanna. Ich sah die Gruppe Kinder, die in Gedanken versunken auf dem Boden kniend ihren Schatz betrachteten. Ich bat die Kinder zusammen mit den Schallplatten vor einer Mauer zu posieren. Das Posieren war plötzlich viel wichtiger als die Schallplatten, die Interaktion mit dem fremden Fotografen viel spannender.
Fotografie
und Film ist bei ihnen fast immer Interaktion?
Ja, das kann ich nicht genug wiederholen. Ich benutze die Kamera wie gewisse Hundebesitzer ihre Tiere. Die Tiere werden zum Vorwand für ein Gespräch benutzt… «Das ist aber ein Süsser, wie alt ist der? Wie heisst diese Rasse?» etc. Natürlich kommt heute, wo alle mit ihren Handys um sich schiessen, niemand mehr zu mir und fragt: «Was ist das für eine Kamera?»
Da fällt mir eine Geschichte ein, die ich vor ein paar Jahren im Maggia-Tal, im Tessin, erlebt habe. Ich hatte meine Sinar auf dem grossen Stativ aufgebaut, um Schafe, welche am Fluss weideten, zu fotografieren. Als ich mich unter das Tuch verkriechen wollte, kam eine Frau mit einer kleinen Digitalkamera in der Hand zu mir und fragte: «Wie viele Bilder kann diese Kamera machen?» Ich antwortete: «Eins.» – «Oh», erwiderte sie, «meine kann zweitausend!» Dann ging sie grusslos ihres Weges.
Die Kommunikation geht heute jedoch meist von mir aus. Und heute kann man so ziemlich jeden und jede fotografieren. Das Zeitalter der Handyfotografie und der Selfies ist ein diesbezüglicher Segen. Alle sind gewohnt, permanent fotografiert zu werden. Das nutze ich natürlich schamlos aus. [lacht]
Inwieweit
hat die Selfie-Generation die Fotografie beeinflusst?
Meiner Meinung nach ganz erheblich. Täglich werden über eine Milliarde Bilder auf Facebook und Instagram hochgeladen. Ohne Bilder ist dein Leben heute inexistent. Egal, ob es dein Essen ist oder was immer du gerade siehst und machst, es muss fotografiert werden.
Die Kameras der neuen Handygeneration sind besser als manche grossen, professionellen Kameras; und vor allem muss man sich nicht mehr um die Technik kümmern. Das Gerät denkt für dich und stellt alles richtig ein. Jedes Bild gelingt. Beim Hochladen, zum Beispiel auf Instagram, wird dir ein komplettes Fotolabor angeboten, du kannst Look, Belichtung und Kontrast verändern und jeder wird zum Künstler.
Für die, die es noch künstlerischer haben wollen, gibt es Apps wie Hipstamatic. Damit sieht jedes Bild aus, wie mit einer Rollei um 1960 rum gemacht. Über Schärfentiefe und Tiefenschärfe musst du nichts mehr wissen, den Unterschied kennt heute sowieso niemand mehr… [lacht] Und viele Fotos, gerade auf Instagram, sehen denn auch fantastisch aus. Nur: mit Kunst, wie meine Künstlergeneration dies damals sah, hat dies in den meisten Fällen nichts zu tun.
Wie
lässt sich denn, trotz der von Ihnen erwähnten Konkurrenz, noch
Kunst machen? Und, braucht es diese noch?
Gute Frage! Und nein, vermutlich braucht es diese nicht mehr. Ich wundere mich auch darüber, was heute von den Kuratoren, also den Leuten, die bestimmen, ob etwas Kunst ist oder nicht, ausgestellt wird. Im Moment haben es beispielsweise die Fotos des französischen Schriftstellers Michel Houellebecq in die Museen geschafft, zweifelsohne ein wichtiger zeitgenössischer Autor. Nur, seine Fotos sind mehr als medioker, völlig uninteressant und für die Geschichte der Fotografie irrelevant. Nur weil jemand berühmt ist, ist er noch lange kein guter Fotograf. Das passiert heute jedoch öfter, auch in der Modefotografie. Kristian Schuller zum Beispiel wird meiner Meinung nach völlig zu Recht gelobt und als Genie gefeiert. Seine Bilder sind innovativ und zeugen von einem grossen gestalterischen Willen. Ganz im Gegenteil zu der Fotografin Ellen von Unwerth. Ihre heutigen Bilder sind langweilig, es scheint sie nichts mehr zu interessieren, weder Hintergrund noch Vordergrund. Damit eine «Handschrift» entsteht, blitzt sie einfach alles zu. Immer nach dem gleichen Muster.
Das ist sowieso eine seltsame Bestrebung vieler Fotografen: Sie glauben, ihre Bilder müssten eine Handschrift haben, einen unverkennbaren Stil. Sie richten sich nach der bildenden Kunst, wo ein Chillida ein Chillida ist und ein Miró ein Miró. Und sie schneiden dann zum Beispiel immer die Köpfe an, oder halten die Kamera schräg oder was auch immer. Wie die Bilder des deutschen Malers Georg Baselitz, der alle seine Sujets auf dem Kopf abbildet. Ein gutes Bild hat keine Handschrift. Punkt. Und wenn, dann nur über den Inhalt. Arnold Odermatt, Ex-Polizist und Fotograf aus Nidwalden, hat ein Berufsleben lang Verkehrsunfälle fotografiert. Natürlich erkennt man ein Odermatt-Bild auf den ersten Blick. Die Fotografien kommen jedoch ohne technischen Gimmick aus. Auch die Bilder des tschechischen Fotografen Miroslav Tichy erkennt man sofort. Bei seinen Bildern liegt es am Standpunkt; Tichy hat nur im Geheimen fotografiert. Eine Entdeckung seines Tuns hätte ihn zu tiefst verwirrt und beschämt. Er wusste, dass er das, was er machte, eventuell nicht tun sollte.
Gibt
es heute noch gestalterische Regeln?
Ich weiss es nicht. Ich denke, dass sie an den Volkshochschulen den Hobby-Fotografen durchaus gewisse Regeln beibringen, die sogenannte Bildgestaltung. Was der Betrachter als ein gutes Bild empfindet, ist in der Regel nicht einfach ein willkürlich entstandenes Foto.
Für mich persönlich ist es klar, dass jedes Bild ganz strengen Regeln folgen muss. Oder anders gesagt, wenn ich diese Regeln breche, dann will ich damit etwas aussagen.
Wenn ich zum Beispiel die Kamera bei der Aufnahme oder nachträglich bei der Ausschnittwahl schief halte, bedeutet dies, dass eine Sache «aus dem Lot ist». Jeden mit einem intakten Gleichgewichtssinn muss ein solches Bild irritieren. Vielleicht will ich das, aber wenn alle meine Bilder schief sind, ist das nur manieriert.
Ein ergreifendes Beispiel aus der Kinogeschichte, eines richtig eingesetzten «Fehlers» sieht man im Film 1900 von Bernardo Bertolucci. Als Mussolini an die Macht kommt und die Politik aus dem Ruder läuft, quadriert er alle Aufnahmen schief.
Wenn Leute oder Dinge angeschnitten werden, bedeutet dies jedoch in 99% aller Fälle gar nichts, ausser das Unvermögen des Fotografen, es sei denn, es handelt sich um Close-Ups. Nicht nur ich gehe hin und verscheuche Leute oder verschiebe ein störendes Element im Bild. Auch Henri Cartier-Bresson hat dies, gemäss eigenen Aussagen, fast bei jedem Bild machen müssen. Die Bilder kommen nicht perfekt auf die Welt!
How do you make a perfect picture?
Perhaps we should say at this point that in this conversation we are talking exclusively about art photography, fine art photography, as Americans call it. So, it is not a question of commercial photography, such as wedding photography, advertising photography or online photography. Because I don't know anything about that. As I mentioned at the beginning, I never had to make a living from photography. Photography and film are for me «sacred» and I see these media in my case as a personal artistic means of expression.
Wie macht man ein perfektes Bild? Dies ist natürlich die zentrale Frage. Ich glaube, dass ich noch nie ein perfektes Bild gemacht habe. Vielleicht ist es mir ein paar Mal fast gelungen. Zum Beispiel das Portrait der damals 17-jährigen Sofia Snozzi, der Tochter des Architekten Luigi Snozzi, aufgenommen im Tessin 1982. Ich konnte beobachten, wie Sofia immer ihre langen blonden Haare mit einem geschickten Schwung von einer Seite ihrer Schultern auf die andere beförderte, ohne die Haare zu berühren. Für das Bild musste Sofia diese Bewegung für mich dutzende Male machen, bis wir es hatten.
Ein anderes Bild, das ich sehr liebe, ist das Portrait unserer Katze Zorbas. Der Kater denkt, er müsse den Löwen im Logo von Metro Goldwin Meyer imitieren. In Tat und Wahrheit gähnte er lediglich.
[lacht]
Aber auch bei diesen zwei Bildern muss ich natürlich anführen, dass sie nie auch nur entfernt an die Bilder eines Sebastião Salgado heranreichen, sie sind zu einfach gestrickt, zu banal in ihrer Aussage.
Nach einer Methode oder einem Trick gefragt, kann ich nur bestätigen, was ich bei den grossen Fotografen gelesen oder aber selbst beobachtet habe: Man benötigt sehr viel Zeit und unglaublich viel Geduld. Das Wetter oder die Tageszeit ist meist nicht richtig, wenn man zum ersten Mal auf eine Location trifft. Also muss man manchmal während Tagen zurückkehren bis alles stimmt. Auch mit Personen und Modellen verhält es sich ähnlich; erst nach Tagen oder nach Hunderten von Fotos, nähert man sich dem, was einem ursprünglich vorschwebte.
Jedes Jahr fotografiere ich in Kambodscha den alten Mann, der an seinem Strassenstand aus farbigem Zucker Tiere und Figürchen herstellt. Das ultimative Portrait ist noch nicht unter den Dutzenden von Bildern, die ich bereits von ihm gemacht habe. Vermutlich wird das Bild erst dann gelingen, wenn er mir hundert Prozent vertraut. Wenn er denkt: «Wo ist eigentlich der Fotograf? Er ist dieses Jahr noch nicht gekommen…»
Was ganz wichtig ist, ist das Wissen, das man nicht fotografieren kann, wenn man zum Beispiel mit einem Partner unterwegs ist. Man würde dauernd ein schlechtes Gewissen haben, wenn die Person auf einen warten muss. Gott sei Dank geht meine Frau ebenfalls einer Beschäftigung nach, in der sie dieselben Rahmenbedingungen braucht. Sie zeichnet und malt in Strassen, Restaurants, etc. Heute nennt sich das «urban sketching». Sie versteht mich also und ich sie. Wir geben einander die nötige Ruhe und privacy.
Etwas anderes ist es, wenn man einen Assistenten dabeihat. Diese Person kennt meinen Stil und Rhythmus. Am liebsten ist mir mein ehemaliger ausführender Produzent, der Kanadier Chris Jarvis, mit dem zusammen ich meinen letzten Film Fire Fire Desire, gemacht habe. Wir waren über Jahre immer wieder zusammen in Südostasien und Japan unterwegs. Er hat ein unglaubliches Gespür für Land und Leute und weiss zusätzlich so viel von Licht, dass er immer weiss, wann und wo er die Lampe hinhalten muss. Auch sonst harmoniere ich mit ihm. Er ist, neben meiner Frau, der einzige, der meine Bilder kritisieren darf. Er sagt zum Beispiel: «Da hat es oben zu wenig Luft.» und dergleichen. Nicht, dass ich auf die beiden hören würde. [lacht] Ja, ich denke, dass die Kunstfotografie sich bei mir genau in diesem Punkt von der Gebrauchsfotografie abhebt: Ich weiss immer ganz genau, was ich will, was richtig und was falsch ist. Ich erinnere mich, dass mein Vater jeweils völlig irritiert war, wenn, was nur selten vorkam, jemand eines seiner Bilder kritisierte.
Ja,
was braucht es, um ein perfektes Bild zu machen?
Jetzt wo ich durch ihre Frage darüber nachdenken muss, kommt mir noch vieles in den Sinn. Ich frage mich, ob eine ausschliessliche Beschäftigung mit Fotografie nötig wäre. Also, sich nicht noch für tausend andere Dinge interessieren, wie es bei mir der Fall ist. «Für ein Nichts, einmal im Leben, alles zu wagen…» wie Kurt Guggenheim in Alles in Allem den französischen Arzt, Fotografen und Philosophen Michele Vieuchange zitiert. Ich zitiere Guggenheim übrigens in einem Gespräch mit Werner Herzog. Und er geht begeistert auf das Zitat ein. Ich hatte diesen Mut nie, weder mit meiner fotografischen noch meiner filmischen Arbeit. Immer war da die Angst, dass ich nicht reüssieren würde oder ich meine künstlerischen Freiheiten verlieren könnte. Hätte ich jedoch an einem gewissen Punkt in meinem Leben eine solche Entscheidung getroffen, hätte ich vielleicht das perfekte Bild bereits gemacht. Wie wir wissen, nützt der Konjunktiv nichts. Ich habe also noch alles vor mir… [lacht]
Of course, it is helpful to devote oneself completely to something. For example, the gifted Japanese photographer Daidō Moriyama, he's been strolling through Tokyo every day for over 50 years to take his pictures. This was and is the case with most great photographers, exceptions only prove the rule. Of course there are others like me who have more than one profession, Wim Wenders, for example, or René Burri, who originally only wanted to illustrate his journalistic travel stories. Both are great photographers who also have other professions. And of course, Karl Lagerfeld. It was especially interesting with him that when asked about his profession in interviews, he always listed photographer first and not fashion designer, which was his main occupation. I am also tempted to answer the question about my occupation with photographer, although I have a completely different profession... Photographer is more than just a job title, it describes a «state of mind».
Annemarie Schwarzenbach is also an example of a photographer who did other things...
Mhm… bei Annemarie Schwarzenbach habe ich eher ambivalente Gefühle, was ihre Fotografie anbetrifft… Die Bilder sind zwar historisch interessant und, wenn man ihre Tagebücher liest, auch erhellend in Bezug auf ihr Leben. Sie reiste als eine der ersten Frauen alleine durch den Orient etc. Die Fotos sind jedoch nicht wirklich gut. Es ist wie mit ihren Texten. Wenn man ihr literarisches Werk mit den Aufzeichnungen Isabelle Eberhardts, die ein Jahrzehnt vorher alleine durch Nordafrika reiste oder mit ihrer amerikanischen Freundin Carson McCullers vergleicht,… Welten! Trotzdem war sie eine wichtige Person und ich will ihre Arbeit und ihren grossen Einfluss, auch bezüglich der Schweizer Frauenbewegung, auf keinen Fall schmälern! Aber wir wollen ja nicht über Literatur diskutieren.
Viel eher verstehe ich Vivian Maier als wirkliche Fotografin, auch wenn sie hauptberuflich etwas anderes machte. Sie war nämlich Kindermädchen. Ihre Bilder wurden zu ihren Lebzeiten übrigens nie gezeigt. Niemand wusste von ihrer geheimen Obsession. Gleichzeitig hatte Helen Levitt ebenfalls in den Strassen New Yorks fotografiert und sie wurde weltberühmt.
Wie macht man ein gutes Bild… das gute Bild. Sie sehen, die Frage beschäftigt mich noch immer… Gerne würde ich sagen, dass es «das perfekte Bild» per se nicht gibt. Nur würde das nicht stimmen; es gibt Bilder, wie von Ausserirdischen gemacht, die einen tief bewegen. Ja, in einzelnen Fällen sogar erschüttern. Die Lilien von Robert Mapplethorpe gehören dazu. Leider habe ich Idiot diese vor Jahren verkauft, heute sind sie etwa eine Million Dollar wert. Aber das ist nicht der wichtigste Grund, weshalb ich mich einen Idioten schimpfe. Nein, ich vermisse die Bilder echt! Nach dem «Studium», und dem Finden des «Punctum», einer solch bewegenden Fotografie, komme ich zum Schluss, dass vieles beim Rezipienten liegt. Und damit meine ich nicht den blöden Spruch «Beauty Lies in the Eye of the Beholder». Auch wenn man den Spruch zehn Milliarden Mal zitiert, wird er deswegen noch lange nicht wahrer. Nur weil Schönheit ausserhalb heutiger wissenschaftlicher Erkenntnis liegt und es (scheinbar) keine Regeln im Sinne von mathematischen Formeln gibt, mit Ausnahme des Goldenen Schnittes vielleicht, zeugt es von grossem Unverstand, die Diskussion der Ästhetik so banal zu beenden.
Bei den einmaligen Bildern denke ich, dass diese ihre Kraft aus archetypischen Quellen schöpfen. Und so sehe ich auch die Rolle des Betrachters. Er lädt das Bild im Kopf auf, beeinflusst durch seine Bildung, seine (Vor-)Geschichte und seine Intelligenz.
Dazu fällt mir eine Geschichte meiner Jugend ein. Mit zwanzig war ich in San Francisco. Ich hörte von Freunden, dass Roman Polanski an der Berkeley Universität ein Seminar gab. Leider lief dieses schon über eine Woche und ich stiess erst an einem der letzten Tage dazu. An diesem Abend wurde zuerst der Film Repulsion (Ekel) gezeigt. Danach diskutierte Polanski mit den Studenten. Einer der Studenten ergriff das Wort und lobte in einem langen Vortrag den Einsatz eines toten Kaninchens, das während der gesamten Dauer des Films in der Küche lag. Er erklärte die metaphorische Wirkung, die historische Bedeutung in der jüdischen Mythologie usw. Ich erinnere mich nicht mehr an die Details. Polanski hörte dem Studenten fasziniert zu, dankte ihm für seine Erklärungen und sagte, dass er all dies nicht gewusst habe. Er habe vielmehr, ohne zu denken und ganz spontan, eines Morgens auf dem Weg zum Filmstudio das Kaninchen bei einem Metzger hängen sehen und dabei gedacht, dass es gut in die Set-Küche der schizophrenen Protagonistin passen würde. Trotzdem, da gebe er dem Studenten natürlich recht, habe das Bild eine starke metaphorische Wirkung auf den Zuschauer. Er könne sich sein spontanes Verhalten durchaus damit erklären, dass er solche Bilder verinnerlicht hätte. Es sei ihm übrigens öfters passiert, dass er von Filmjournalisten im Nachhinein erfahren habe, was einzelne Bilder in seinen Filmen bedeuten.
Man könnte obiges Zitat also durchaus abändern in «Die Bedeutung von Schönheit liegt im Auge der Kulturgeschichte». [lacht]
Yes, I think that metaphors and symbols in photos can move the viewer. As a photographer, you rarely have the opportunity to use them consciously. Here - as with Polanski's dead rabbit - the photographer's intuition and, not to be underestimated, chance come into play.
How do you deal with subsequent image processing in the past and today by digital means?
Ich habe erst kürzlich Urs Odermatt, den Sohn von Arnold Odermatt, etwas naiv gefragt, ob die Fotografien seines Vaters direkt aus der Kamera sind oder bearbeitet wurden? Urs hat gelacht und gefragt, ob ich einen Mythos oder die Wahrheit hören wolle.
Die
Wahrheit ist, dass Urs zusammen mit seinem Vater und
Photoshop-Spezialisten jedes Bild mit grossem Aufwand bearbeitet
hatte.
Früher im Fotolabor – und danach fragen sie mich – haben wir jeweils Tage für ein gutes Bild gebraucht. Ausschnitt, Helligkeit und Kontrast wurden verändert. Abwedeln und Nachbelichten waren an der Tagesordnung. Dazu kam die Wahl der Papiergradation. Wenn wir wollten, dass man den Originalausschnitt sehen sollte, haben wir den schwarzen Rand ums Bild gelassen. So konnte man auch meist sehen, mit welcher Kamera fotografiert worden war.
Heute hat man mittels digitaler Bearbeitungssoftware wesentlich mehr Möglichkeiten.
Vor allem bei der Schwarz-Weiss-Fotografie, ich fotografiere meistens schwarz-weiss, gibt es grossartige neue Möglichkeiten. Bereits beim Sortieren mit dem Programm Capture One kann man spielerisch verschiedene Belichtungsvariationen ausprobieren. Dann im Photoshop, hat man anschliessend die Möglichkeit, das Bild auf unzählige Arten zu gestalten. Wirkt zum Beispiel im Bild der ursprüngliche rote Pullover eines Protagonisten zu schwarz, fahre ich einfach die Rotkurve runter und habe nun einen hellen Pullover im Schwarz-Weiss-Bild. Das geht natürlich nur im RAW-Format. Die Postproduktion ist heute das A und O eines guten Bildes. Auch die «alten» Fotografen haben dies erkannt und Annie Leibovitz und Sebastião Salgado z.B. verbringen Stunden am Computer.
Jetzt
haben wir den Bogen zu Analog versus Digital geschafft. Gibt es da,
neben der Postproduktion, also schon bei der Aufnahme Unterschiede?
Wenn ich nun sage, dass das eine mit dem anderen nichts zu tun hat, ist das nicht ganz zutreffend, kommt jedoch der Sache nahe. Ausser vielleicht für Araki, der fotografiert pausenlos, vermutlich sogar, wenn er schläft, mit allen nur möglichen und unmöglichen Apparaten. Das Gerät ist scheint ihm völlig egal zu sein, Hauptsache er kann abdrücken. Jeder Schuss ist ein Geniestreich und kann verwendet werden. Er ist der Picasso der Fotografie. Bei Picasso war auch jeder, noch so spontan hingeworfene Strich, ein Meisterwerk. Das kommt vor.
Bei mir ist und war das leider nicht so.
Als Technikfreak habe ich natürlich sofort zugeschlagen, als die Digitale Fotografie aufkam und mir eine Nikon D100 gekauft. In Klammern bemerkt: Das hätte ich nicht tun sollen; alle Bilder die mit dieser Kamera gemacht wurden sind heute nur in Ausnahmefällen zu verwenden, zu schlecht ist die Qualität. Erst ab dem Model D300 wurde die Qualität etwas besser, aber immer noch nicht so gut wie das analoge Negativ. Der Vorteil war, dass ich mich schnell an den Stil des digitalen Fotografierens gewöhnen konnte. Und nochmals ja, es fühlt sich völlig anders an. Ich tue mich schwer, den Unterschied in Worte zu fassen. Vermutlich hat es bereits damit zu tun, dass ich in der analogen Fotografie einen Film einlegen musste. Ich habe nur eine (bei der Sinar), zwölf (beim 6x6cm-Format) oder 36 Aufnahmen (beim Kleinbildformat). Und das Material und die nachträgliche Verarbeitung waren teuer. Also habe ich schon bei der Aufnahme überlegt: «Will ich diese Aufnahme wirklich machen?» Dann das Auslösen und das Geräusch des Verschlusses! Genial! Wahnsinnig inspirierend! [lacht] Ich produzierte viel weniger Ausschuss als heute in der Digitalfotografie, obwohl ich bereits ab dem Modell Nikon F2 Motoren verwendete, also auch in der Lage war, Serien zu schiessen. Bei der digitalen Fotografie ist für mich das Wichtigste die Wahl der Kamera: Zeit und Blende müssen wie bei den alten Kameras eingestellt werden können; möglichst über Drehschalter (Zeit) und die Blende am Objektiv. Die Physik der Fotografie hat sich nämlich nicht verändert; noch immer sind die wichtigsten Gestaltungselemente Zeit und Blende, die Tiefenschärfe. Auch muss es möglich sein, eine manuelle Schärfe zu fahren. Bei einer neuen Kamera verbringe ich viel Zeit damit, die meisten elektronischen Hilfsmittel auf OFF zu schalten. All das Zeugs lenkt nur ab und ist meist völlig unnütz. Zu meiner neuen Nikon Z6 habe ich extra bei Nikon einen Kurs besucht, um zu lernen, wie man die Elektronik deaktiviert. Wozu brauche ich zig verschiedene Belichtungsmessverfahren? Früher hatte ich einen Belichtungsmesser um den Hals baumeln und habe entweder die Belichtung geschätzt oder aber den Leuten die grosse, weisse Halbkugel des Sekonic vor die Nase gehalten. Das war natürlich psychologisch geschickt. Die Leute haben sich wie beim Arzt gefühlt und mir nach diesem, fast intimen Akt des Lichtmessens, völlig vertraut und mir quasi die Befehlsgewalt über sich erteilt.
Beim Film stecke ich aus diesem Grund den Protagonisten die Radio-Mikrofone immer persönlich an. Wenn ich zum Beispiel das Kabel bei einer Frau unter dem Büstenhalterverschluss hindurch fädeln muss, damit es im Bild nicht sichtbar ist oder bei einem Mann mit einem Tape auf den Schwabbelbauch kleben muss, komme ich den Leuten sehr nahe und sie geben innerlich jeden Widerstand auf.
Fotografie ist Psychologie. Mein Sohn Remo studiert Psychologie, vielleicht wird er einmal ein grosser Fotograf…
What do you think of today's forms of presentation? Do you print your images on an inkjet printer or do you enlarge them manually on Baryta paper?
Es gibt Fotografen, die ihre digitalen Bilder auf Film belichten, um dann im Labor Barytpapier-Abzüge zu machen. Das kann ich nicht so ganz nachvollziehen. Meiner Meinung nach gehören Analog zu Analog und Digital zu Digital. Wenn ich meine Jock Sturges- oder Jan Saudek-Originale betrachte, die auf Barytpapier vergrössert wurden, strahlt das etwas ganz anderes aus, als ein Digitaldruck, obwohl die Qualität der Drucker und die der Fotopapiere gerade in kürzester Zeit extrem verbessert haben.
Jetzt, wo eine Ausstellung meiner Bilder geplant ist, musste ich mich natürlich fragen: Wie mache ich das? Aus zeitlichen und finanziellen Gründen habe ich beschlossen, alle Bilder digital zu drucken. Aber ich bin ja auch nicht eine Vivian Maier oder eine Helen Levitt. Bei diesen Bildern wäre es eine Sünde, sie digital auszudrucken!
Sie
erwähnen dauernd Fotografen und Bilder aus der Fotogeschichte. Ich
weiss, dass sie viele berühmte Fotografen persönlich kennen und
kannten und teilweise ihre Bilder sammeln…
Yes, I always felt attracted to photographers. This of course already had started with the friends of my parents. But that went on for the rest of my life. When I was twenty and studying in America, I lived in the house of the great filmmaker, photographer and art professor James A. Herbert. We spent nights discussing these things on his porch. On evenings he would suddenly jump up and fetched a box of pictures or a photo book for us to discuss. I learned a lot from him. He was also significantly involved in my first feature film Moon in Taurus.
Then there was the young American woman in Athens, Georgia, who called herself Bonnie T. She was an incredibly talented photographer. She had a very soothing, almost narcotic influence on people. Bonnie T. moved slowly, spoke very quietly and seemed to float permanently one meter above the ground. She dressed in long, flowing hippie skirts and wore broad-brimmed straw hats. And then there was her long, blonde hair. No one believed she could do what she did in photography. Her portraits of Athens blacks are among the best I have ever seen. She mostly photographed with an 8/10 inch plate camera directly on paper, not on negative film. The photo paper had a sensitivity of about 4 ISO, the exposure times were correspondingly long. People had to wait in front of her camera for hours until she had arranged the light perfectly and then sit motionless for minutes. Surprisingly, most of her pictures are sharp. She lulled people with her soft voice, even hypnotized them. Walter Benjamin once said in his Little History of Photography about these steps: «...the procedure itself causes the models not to live out of the moment, but into it». By the way, Bonnie T was a student of the legendary Pinhole photographer Wiley Sanderson. Sanderson was then still a professor at the University of Georgia. I was lucky enough to meet him at an exhibition. During the shooting of Moon in Taurus I asked Bonnie to do the stills. She said she'd like to but didn't have a suitable camera. She actually only owned the plate camera and used shoe boxes for her pinhole photography. I lent her my Nikon...
Then, at Fetish & Dreams, my second feature film, shot in New York, we filmed Joel Meyerowitz photographing redheads. When I was invited to shoot with Werner Herzog and Klaus Kinski in Ghana, I became friends with Beat Presser. Presser was the only photographer to satisfy Kinski's demands. One year later I travelled through Thailand with Presser, where we also took a lot of pictures.
In the film Secret Moments, photography plays a leading role. Already in the first sequence my leading actress Judith van der Heuvel, who by the way was a professional model in her real life, pulls the nude pictures of the Swiss photographer Bruno Bisang from his coarkboard. In the film’s story, she was jealous of the women depicted. Furthermore, my friendship with the Danish photographer Fin Hansen influenced the course of shooting and thus the storyline considerably. Fin was a so-called «academic» photographer who had studied his craft at the Academy in the 1950s. For some reason, he became a porn photographer from the beginning. Denmark was the first country in Europe to have a porn industry. Fin staged each of his sex stills as if it had to satisfy great artistic demands. In perfect studio decor and expertly illuminated, he recorded the scenes, always with his Hasselblad in 6x6 format. He refused to photograph close-ups. He left this to the magazine publishers; they then had to enlarge sections with a lot of effort. I was there a few times for his shoots and could see how carefully he worked.
Ein Höhepunkt war, als ich die Kamera für eine Sequenz in einem Film von Isa Hesse -Rabinovitch (Schlangenzauber) führte. René Groebli, der mit Isa befreundet war, stiess bei den Aufnahmen dazu und fragte mich, ob er mein Assistent sein dürfe. Und das haben wir dann so gemacht. Ich konnte von ihm in zwei Tagen mehr über Lichtsetzung lernen, als das ganze Leben zuvor…
René hat mir damals seine Blitzanlage geschenkt. Seinen Blitzbelichtungsmesser und die Stangen, um Hintergründe aufzuhängen, verwende ich noch heute. Auch hat er mir ein Aktbild geschenkt, welches ich in grossen Ehren halte. Eine sehr lange Freundschaft verbindet mich zudem mit dem Kameramann, Filmemacher, Künstler und Fotografen Jürg Hassler. Einige seiner Schwarz-Weiss-Reportagen, die er in den späten 1950er Jahren gemacht hat, habe ich in meinem Magazin TOX publiziert. Auch habe ich für ihn den Ausstellungskatalog fürs Tinguely-Museum in Basel fotografiert.
Solche
Erfahrungen sind natürlich besser als jede Fotoschule…
Absolut. Nur ist es wichtig, dass die Fotografen, denen man über die Schultern schaut, grosse Fotografen sind. Ansonsten bringt das gar nichts. Und Bücher, Bücher, Bücher und Ausstellungen. So lernt man am meisten. Und zwischendurch eine analoge Kamera nehmen und ein paar Stunden in einem Fotolabor verbringen, das bringt auch sehr viel. Ich habe meinem Sohn Leo, als er Architektur studierte, meine Sinar geschenkt. Damit hat er schon während des Studiums Architekturfotografie gemacht. Er konnte sein Wissen und die Erfahrung mit dieser Grossbildkamera dann auch an der ZHAW in Winterthur als Gastdozent weitergeben. Diese Technik beherrscht ja heute niemand mehr.
Was
haben sie, neben der geplanten Ausstellung, für fotografische Pläne?
Ich würde gerne ein paar der «nicht gemachten Fotos» nachinszenieren. Auch möchte ich ein grosses Portrait der Zürcher Langstrasse machen. Der Zürcher Stadtrat und die Spekulanten wollen nämlich diesen «Sündenpfuhl» aus der Stadt verbannen und die letzte Strasse mit echtem Leben, analog zur Europaallee, zum Shopping-Paradies umfunktionieren. Für diese Serie schwebt mir weniger eine dokumentarische Reportage, als eine Modeinszenierung vor: Ich möchte die Mode, die das Zürcher Original Fred Kennel in seinem Geschäft Towndown anbietet, mit den Kundinnen seines Geschäfts in Szene setzten. Seine Gothic-Modelle passen wunderbar in die Langstrasse.
Wenn ich einen Gönner finde, würde ich gerne mit zwei Modellen nach Griechenland fliegen und das Hirtenmärchen Daphnis und Chloe nachstellen. Daphnis und Chloe ist ein spätantiker Liebesroman des griechischen Schriftstellers Longos, der vermutlich gegen Ende des 2. Jahrhunderts geschrieben wurde und auf der ägäischen Insel Lesbos spielt. Longos erzählt die Geschichte von den Findelkindern Daphnis und Chloe, die ihre Kindheit bei Hirten auf Lesbos erleben, voneinander getrennt werden, wieder zueinander finden, sich lieben und schliesslich ihre Eltern wiederfinden und heiraten. Karl Lagerfeld hat das bereits gemacht, die Ausstellung in Hamburg war auch eindrücklich, nur habe ich eine völlig andere Vorstellung, wie man die Geschichte fotografisch umsetzten müsste. Bei meinen Bildern müsste man dann natürlich Maurice Ravels Ballettstück Daphnis et Chloe abspielen…[lacht]
Then I would very much like to travel again to Cuba and Ghana to see how these countries have changed. I am also drawn to Japan again, the paradise for photography par excellence. Symbolism attracts me mystically. I would also like to shoot nude pictures again. But not like I used to, spontaneously and with girls I know. No, today I would like to tell a story with a bigger crew in a studio with top models from the fashion world. Also this year the next issue of the magazine TOX will be dedicated to my photographs. A book would also be nice...
Was
empfehlen sie jungen Fotografen?
Sich nicht anzupassen. Das hat jedoch nicht direkt mit Fotografie zu tun. Stellt der «political correctness» etwas entgegen! Versucht, auch wenn ihr schwarz-weiss fotografiert, die Welt nicht schwarz-weiss zu sehen. Hinterfragt alles, was ihr seht. Mir wird angst und bange, wenn Leute klare Vorstellungen über Gut und Böse haben und die Grautöne nicht mehr wahrnehmen. Manchmal muss man auch zu unorthodoxen Mitteln schreiten, um etwas Grosses zu vollbringen.
The most important thing, which I cannot emphasize enough, is gaining knowledge of the history of photography and art. Photographing in a vacuum doesn't do much, in my opinion. You always have to keep in mind what's already been done. Otherwise nothing great and new can develop. And one should also be concerned with the philosophy of the image, for example by the reading of Ludwig Wittgenstein, Roland Barthes, Susan Sontag, Theodor Adorno, Walter Benjamin and John Berger. As Werner Herzog so aptly says in my film Location Africa: «I have prepared myself with enough philosophy, nothing can happen to me anymore...».
Steff Gruber, thank you for the interview.
November 2018, Can Tho, Vietnam
Cited photographers and filmmakers:
James A. Herbert
Hanspeter Mühlemann
E.T. Werlen
Walter Läubli
René Groebli
Henri Cartier-Bresson
Werner Bischoff
Werner Herzog
Jean-Luc Godard
Kipling Phillips
David Hamilton
Jacques Bourboulon
Irina Ionesco
Jock Sturges
Sally Man
Jürg Hassler
Andrej Tarkowskij
Daniel Leuenberger
Jeanloup Sieff
Nadar
Alfred Stieglitz
Walker Evans
Diane Arbus
Nick Ut
Eddie Adams
Man Ray
Nobuyoshi Araki
Sebastiao Salgado
Michel Houellbecq
Kristian Schuller
Ellen von Unwerth
Arnold Odermatt
Miroslav Tichy
Daidō Moriyama
Bernardo Bertolucci
Annemarie Schwarzenbach
Vivian Maier
Helen Levitt
Robert Mapplethorpe
Roman Polanski
Urs Odermatt
Annie Leibovitz
Jan Saudek
Bonnie T
Wiley Sanderson
Joel Meyerowitz
Beat Presser
Bruno Bissang
Fin Hansen
Isa Hesse-Rabinowitch
Leo Gruber
Karl Lagerfeld
Bettina Reims