Artikel von Ulrich Schneider 2023

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Wenn ein hochgeworfener Stein in der Luft zu stehen scheint

Kunsthistoriker Ulrich Schneider über die Fotografien von Steff Gruber (Auszug)

Zentrum Steff Grubers künstlerischen Schaffens ist die Fotografie, der er sich seit 2019 wieder intensiv widmen kann. Für seine Werke wurde er mit einer Vielzahl von Preisen und Auszeichnungen geehrt, zuletzt mit der Gold- und Silber-Auszeichnung des Muse Photography Award 2023 für die Serie MEAT, 2023 (12). – Von Beginn an kann Gruber den Betrachtern seiner Lichtbilder das Gefühl vermitteln, dass er zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen ist. So überraschte den 22jährigen am Morgen des 2. November 1975 auf einer Sehnsuchtsreise nach Rom die Nachricht, dass der verehrte Pier Paolo Pasolini in der vergangenen Nacht in Ostia erschlagen worden sei (1). Sofort machte er sich auf zum Tatort, einer abusiven Müllkippe in der spätherbstlichen Tristesse des Badeortes. Mit zwei Aufnahmen seiner Nikon F2 gelingt es ihm, exemplarisch die Ausweglosigkeit des Platzes vor dem Hintergrund der Pineta zu verbildlichen, wo der Getriebene seinen Tod billigend in Kauf genommen hatte und wo sich Gruber selbst im zerbrochenen Spiegel einer heroischen Zeit sah (2/3).
1981 durchquerte Gruber, der professionelle Filmemacher, die dramatische Landschaft des Sinai, in dem sich die Narben des Jom-Kippur-Krieges schmerzhaft erhalten hatten (4/5). Emblematisch zeigt der Kadaver eines grauen Riffhaies auf dem völlig ausgedörrten Boden die Absurditäten des Zusammentreffens von Mensch und Natur (6). Immer wieder gilt sein Augenmerk der Einsamkeit des Menschen in der Unmenschlichkeit, so zum Jahreswechsel 1988/1989, als er spontan eine Zürcher Bekannte in das eiskalte New York begleitete. Ihr verleiht er an einer zugigen Ecke in Spanish Harlem, inmitten von Sperrmüll und Graffiti, eine Würde, die aus der thematisch neben ihr aufscheinenden „SOLIDARID[AD]“ mit ihrer dort drogenkranken Schwester resultiert (7).
Von großem Einfühlungsvermögen in die wilde Schönheit seiner Schweizer Heimat zeugen die unzähligen analogen Landschaftsaufnahmen, die von 1972 bis 1992 entstanden sind (8). Besonders wo Artefakt auf Natur trifft, vermag er ein Equilibrium der Kräfte zu verbildlichen. Ein Bach am Auslauf eines Hochgebirges, begleitet von den mächtigen Zeugen vielerlei Felsstürze, wird von einer kunstreich aus Bruchsteinen gefügten Zweibogenbrücke gequert, die sich an einen mittleren Felsen krallt. Die gesamte Szenerie ist in magisch-spätherbstlichem Dunkelblau gehalten, aus dem nur ganz rechts ein paar Blätter in Gelb aufscheinen.
Trotz neusachlicher Präzision vermag Gruber auf diesem Gebiet immer wieder eine lyrische Symbolik zu erzeugen. Vom Beginn seiner Laufbahn als Fotograf wurde er von aufgegebenen menschlichen Behausungen oder von Scheinstädten angezogen, so 1974 von den Stadtkulissen der Paramount-Studios in Los Angeles, wo eine New Yorker Straßenschlucht besenrein auf ihre nie stattfindende Wiederverwendung wartet (9). Ihn zieht die scheinbar materialtreue Gestaltung der Gebäude an, die über dem 2. OG in verlattetem Nichts enden und einst mit quirligem Filmleben rund um die Radio City Music Hall gefüllt gewesen sein mögen. Dazu gehört 2019 auch das Foltergefängnis S-21 in Phnom Penh, in dem das Pol Pot Regime in den Jahren 1975 bis 1979 tausende von Menschen getötet hat und das heute in peinlicher Sauberkeit als erschreckender Memorialort des Genozids der Roten Khmer genutzt wird (10).
Seit einigen Jahren arbeitet Gruber an seinem Opus magnum Vanishing Cambodia, in dem er zum einen das auskömmliche Leben der freundlichen Menschen in den amphibischen Städten des großen Tonle Sap Sees in Zentralkambodscha mit großer Zuneigung beobachtet, andererseits mit der Serie MEAT, 2023, in die Hölle einer geheimen Schweinschlachterei in Phnom Penh vordringt, wo die ausgebeuteten Arbeiter zu wahrhaftigen Teufeln mutieren müssen, um die bestialische Akkordarbeit des Tötens durchzuhalten (11/12).
Neben solch sehr gewagten Unternehmungen, deren es mehrere in seinem Oeuvre gibt, ist er sein ganzes Fotografenleben als Porträtist tätig und kann die psychologischen Befindlichkeiten seiner Modelle mit großer Tiefe vermitteln. Gerade einmal 23jährig verbildlicht er meisterlich die sensibel spröde Schönheit der jungen Patti Smith, am 12. Oktober 1976, während ihres ersten Konzerts in der Zürcher Roten Fabrik, und 1993 greift er mit einem Porträt seines Modells Anke Hemingways frauenschildernden Tenor aus dem ersten Kapitel „A Good Café on the Place St-Michel“ von „A Moveable Feast“ (posthum 1964) auf, wie ihn schon Louis Stettner (1922) 1951 in der Fotografie „Woman seated in a Café, Pigalle, Paris“ vorgegeben hat (13/unten). – Gruber, der ein weites Spektrum von Interessen und Tätigkeiten verzeichnen kann, hat bei seinen fotografischen und cineastischen Werken stets den Menschen, in seiner Schönheit aber auch mit seinen Abgründen, vor Augen. Ein nie versiegendes Interesse an Neuem und Fremden führt ihn als objektiven Filmemacher in viele Teile der Welt, aus denen er als leidenschaftlicher Fotograf berichtet. Aus dieser Leidenschaft resultiert eine zumeist würdigende Schilderung von Menschen und Landschaften in ästhetischen und ausgewogenen Bildern, die häufig in jenem glücklichen Moment entstehen, der dem Augenblick gleicht, wenn ein hochgeworfener Stein in der Luft zu stehen scheint, eh‘ er wieder zu Boden stürzt.

Anke, Paris, 1993 (links); Woman seated in a Café, Pigalle, Paris, Louis Stettner, 1951 (rechts)


Zum Autor Ulrich Schneider

Prof. Ulrich Schneider war von 2003 bis zu seinem Ruhestand 2011 Leitender Direktor des Museums für angewandte Kunst in Frankfurt am Main und davor dreizehn Jahre Direktor der Museen der Stadt Aachen. Daneben war er langjähriger Lehrbeauftragter an Hochschulen und Honorarprofessor für Kunstgeschichte an der RWTH Aachen und an der Johann Wolfgang Goethe Universität. Neben weltweiten Forschungs- und Ausstellungstätigkeiten erhielt Ulrich Schneider Ehrungen für bilaterale Kulturarbeit undwar mehrfach Jurymitglied im Kunstkontext. Heute ist er als Berater tätig und betreibt kunsthistorische Forschung und Provenienzforschung.

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