«Das subjektive Sehen reproduzieren»
Ein Gespräch zwischen dem Publizisten Rene Grossenbacher und Steff Gruber anlässlich der KUNSTSZENE ZÜRICH 1977
RG: 1974 warst Du während eines Jahres in Amerika und hast dort als Fotograf und Filmer gearbeitet. Welche Konsequenzen hat dieser Aufenthalt für Deine weitere Arbeit gehabt?
SG: Ich habe dort sehr intensiv gearbeitet. Das war für mich jedoch weniger wichtig. Vielmehr waren die persönlichen, zwischenmenschlichen Beziehungen zu Filmemachern und Fotografen für mein weiteres Schaffen von Bedeutung. So zum Beispiel meine Freundschaft zu James A. Herbert mit dem ich nächtelang über Experimentalfilm und – Fotografie diskutierte und den ich auch bei seinen Filmen assistierte.
RG: Was waren die konkreten Ergebnisse dieser Begegnung?
SG: Es wurde mir vor allem der Stellenwert des Experimentierens innerhalb der visuellen Kommunikation bewusst. Vor allem deshalb, weil ich einzusehen begann, dass die konventionellen Sehgewohnheiten verändert werden müssen. Es schien mir auch wichtig von der traditionellen Fotografie und somit von meinen Vorbildern Henri Cartier-Bresson und Lee Friedlander wegzukommen.
RG: Hast Du damals schon mit der Sofort-Bild-Fotografie experimentiert?
SG: Ja das habe ich. Ich habe damals die Bekanntschaft mit Silver Thin gemacht, einem Mitarbeiter von «Andy Warhol’s Interview». Wir haben aufregende Diskussionen über die Polaroid-Fotografie geführt. Schon bald habe ich angefangen, mit Polaroid Kontrollbilder anzufertigen. Immer mehr wurde die Polaroid-Kamera zum unerlässlichen Hilfsmittel für mich. Vor allem deshalb, weil sich bei meiner Art von Experimentalfotografie die Bilder laufend verändern.
RG: Du arbeitest ja nicht nur als Fotograf, sondern auch als Filmer. Wie bringst Du diese beiden Medien unter einen Hut? Wo siehst Du die Unterschiede, wo die Parallelen und Ergänzungen?
SG: Beim Film kommen, rein technisch gesehen, noch die beiden Elemente Bewegung und Ton hinzu. Aber die für mich wesentlichen Unterschiede liegen auf einer anderen Ebene. Der Film vermittelt Inhalte in einer anderen Dimension als das fotografierte Bild. Lebovici hat einmal gesagt: «Film ist Traum, der träumen macht». Dies will besagen, dass der Zuschauer während dem Ansehen eines Filmes in einen traumähnlichen Zustand fällt. Die Wirkungsweise auf den Betrachter ist somit verschieden. Während der Film im Allgemeinen eher über das Unterbewusstsein wirkt, lässt sich die Fotografie mit mehr Distanz betrachten.
RG: Und die Gemeinsamkeiten?
SG: Beiden gemeinsam ist einmal die Form der Produktion (Inszenieren, Abdrücken, Strukturieren). Sehr wichtig ist für mich, dass ich sowohl im Film als auch in der Fotografie nach neuen visuellen Ausdrucksmöglichkeiten forschen kann.
RG: Ich nehme an, dass Du der Meinung bist, dass die Fotografie und der Film, wie sie sich heute hauptsächlich darbieten, verändert werden müssen. Was glaubst Du muss konkret verändert werden und wie soll das geschehen?
SG: Ich gehe davon aus, dass Inhalt und Form eine untrennbare Einheit darstellen. Wir müssen also die Gesamtheit verändern. Und dies kann nur geschehen, wenn man nicht den eingefahrenen Schemen folgt. Wir können also nicht noch weitere zehn Jahre schöne, nackte Frauen im Gegenlicht fotografieren.
RG: Du nimmst in diesem Jahr an der Ausstellung «Kunstszene Zürich 77″ teil. Du zeigst dabei eine Reihe von farbigen Polaroid-Bildern. Wie ist es zu dieser Serie gekommen?
SG: Ich arbeite zurzeit an einem Verfahren, das ich Diatypie nenne. Dieses Verfahren ist im Wesentlichen ein Verfremden meiner vorhandenen Fotografien, die ich dann mit der Polaroid-Kamera reproduziere. Diese Serie ist das erste Resultat dieser Arbeit.
RG: Was interessiert Dich daran, von vorhandenem Material auszugehen und dieses zu verfremden?
SG: Im Moment des Fotografierens empfinde ich, bedingt durch die Einmaligkeit einer Aufnahmesituation, eine Anzahl von Gefühlen, die sich mit dem Begriff «erotische Spannung» beschreiben lassen. Es ist meine Absicht, diesen Eindruck ins Bild zu integrieren. Mit der konventionellen Methode ist mir dies immer nur teilweise gelungen. Durch die Verfremdung habe ich die Möglichkeit, mein subjektives Sehen zu reproduzieren.
Zürich, im Dezember 1977