Instant Dreams

Meine persönliche Polaroid-Geschichte

1974 verbrachte ich ein Jahr in den USA. Anfänglich lebte ich in Bainbridge Georgia, an der Grenze zu Florida, bei den Eltern meiner damaligen Freundin Wanda Wester. Später folgte ich Wanda nach Athens, wo Wanda an der University of Georgia Kunst studierte. Ich absolvierte einen SAT-Test und schrieb mich ebenfalls an der UGA ein. «Mass Media Philosophy» hiess der Kurs, den ich besuchte. Schon bald lernte ich den Professor James A. Herbert kennen. Herbert ist Maler, Fotograf und Filmemacher. Seine Werke sind in vielen grossen amerikanischen Museen und in Sammlungen, wie z.B. in der Privatsammlung von Martin Scorseses, vertreten. Damals unterrichtete er Malerei und Film.
Herbert nahm mich schnell unter seine Fittiche und bot mir ein Zimmer in seinem Haus an der Dearing Street an. Die Miete konnte ich mit Malerarbeiten an der Fassade seines Holz-Hauses bezahlen.
Jeden Abend verbrachten wir auf seiner damals schon legendären Veranda. Sobald es dunkel und etwas kühler wurde, tauchten im grossen Garten Gestalten auf: Der Künstler Silva Thin (Jeremy Ayers)[1], soeben von Andy Wahrhol’s Factory aus New York zurück, die junge Cindy Wilson (The B52s), Michael Stipe (R.E.M.[2]) und viele andere Musiker, Künstler, Filmemacher und Fotografen. Sie alle besuchten Herbert auf seiner Veranda. Durch mich vermittelt nahm auch die ausserordentlich begabte Fotografin Bonnie T. teil. Bis weit nach Mitternacht diskutierten wir Kunst- und Filmideen. Manchmal holte Herbert eine Schachtel mit einigen seiner Experimentalfotografien hervor. Darunter waren auch viele Polaroids. Ich erinnere mich vor allem an intime Selfies, die er zusammen mit seiner Freundin Jackie Slayton gemacht hatte. Erst heute weiss ich, dass ich genau zur richtigen Zeit in Athens war: hier fanden in den 1970er-Jahren wegweisende Entwicklungen in Musik, Kunst und Film statt[3].
Neben meiner Nikon hatte ich schon eine der ersten SX70-Kameras dabei, die ich etwa zwei Jahre zuvor in der Schweiz gekauft hatte. Manchmal durfte ich Herbert bei der Herstellung seiner Experimentalfilme assistieren. Er hatte eine spezielle Methode entwickelt: Er filmte mit einer Beaulieu-16mm-Kamera sehr kurze Sequenzen seiner Modelle und Landschaften. Das so gewonnene Schwarzweissmaterial wurde dann mit einem Projektor, der mit einer Handkurbel ausgerüstet war, Bild für Bild auf einen weissen Karton projiziert. Mit der neben dem Projektor aufgebauten Kamera filmten wir die auf dem Karton erscheinenden Slow-Motion-Bilder ab. So entstanden wunderschöne, verzaubernde Impressionen[4]. Mich inspirierte Herberts Methode für meine Polaroid-Experimente: mithilfe von Diaprojektoren projizierte ich Bilder auf vorbelichtetes Polaroid-Material. Die so entstanden Effekte erzeugten geheimnisvolle Traumbilder, die ich «Diatypien[5]» nannte. Ebenfalls auf Herberts Veranda lernte ich die britischen Filmemacher Andy Humphreys und Dick Perin kennen. Zu dritt fuhren wir am Ende des Jahres in einem alten Van quer durch Amerika nach Los Angeles. Unser Weg führte uns auch durch den Norden Mexikos, wo unser Auto in der Grenzstadt Juarez aufgebrochen wurde. Gestohlen wurden nicht nur fast alle meine Polaroid-Originale aus der Athens-Zeit, sondern auch meine SX70-Kamera. Mein Kummer war entsprechend gross.

In Los Angeles lernten wir in einer Bar den Filmproduzenten Robert Evans[6] kennen. Dieser lud uns in die Paramount Studios ein, wo er uns viele, damals noch existierende, Sets der grossen amerikanischen Hollywood-Filme zeigte. Da Fotografieren für Aussenstehende strikt verboten war, überreichte er mir seine SX70-Kamera und erlaubte mir mit einem Augenzwinkern «für ihn» zu fotografieren. Nicht nur durfte ich die Bilder behalten, sondern er schenkte mir auch, nachdem ich ihm meine Diebstahlsgeschichte in Juarez erzählt hatte, seine Kamera. Die Kamera besitze und benutze ich noch heute…

Vier Jahre später, 1978, drehte ich auf Herberts Veranda meinen ersten Kinofilm, MOON IN TAURUS. Wanda, mittlerweile meine Ex-Freundin, spielte die Hauptrolle. Andy Humphreys kam extra aus London angereist, um die Kamera zu führen. Wir organisierten ein Casting im Szene-Restaurant T.K. Harty’s Saloon. Dabei entstanden Polaroids von Cindy Wilson, Silva Thin, Theresa Randolph und vielen anderen[7]. Herbert und Jackie Slayton halfen mir, wo sie nur konnten. Bonnie T. war die Set-Fotografin (sie fotografierte mittlerweile auch öfters mit ihrer 8×10-Grossformatkamera auf Polaroid-Trennfilm). Von ihr lernte ich nicht nur alles, was man über die analoge Kunstfotografie wissen musste, nein, ich kopierte auch, während einer gewissen Zeit, ihren Stil. Im Besonderen verfiel ich ihren Pinhole-Methoden. Durch sie lernte ich dann auch ihr Vorbild, Professor Wiley Sanderson (1918-2011) kennen. Sanderson galt als der Pinhole-Fotografie-Spezialist und ich nutzte die Gelegenheit, alles über den Bau dieser speziellen Kameras zu erfahren.
Die mit meiner Methode entstandenen Diatypien konnte ich erstmals 1977 an der jährlich stattfindenden Ausstellung «Zürcher Künstler in den Züspahallen» ausstellen. Der renommierte Kunstkritiker Fritz Billeter nannte meine Bilder in der Tages-Anzeiger-Kritik von damals «kulinarisch».

Bei allen meinen Kinofilmen benutzte ich Polaroid für Location Finding und Casting: Ausschliesslich mit der SX-Kamera hatte ich, zusammen mit meinem ersten Kameramann Bubu (Rainer Klausmann), eine Recherchereise nach Rom dokumentiert (1982). Ich hatte den Spielfilm SMARA mit Klaus Kinski, Mario Adorf und Peter Berling drehen wollen. Der Film kam nie zustande, dafür aber ein unvergessliches Nachtessen mit Peter Berling und Mario Adorf. Bei einem zehn Jahre später in Amsterdam im Club Roxy, einem alten Jugendstil Theater, stattfindenden Casting für meinen dritten Feature Film SECRET MOMENTS, entstanden wiederum Dutzende von Polas.
Viele dieser so entstanden Fotos nutze ich heute für meine Experimente: «Remembrance of times passed».
In den vielen Jahrzehnten, während derer ich mich mit Film und Fotografie beschäftigte, entdeckte ich unzählige Künstler, die das Polaroidverfahren nutzten. Allen voran Andy Warhol, Wim Wenders, Andrei Tarkowski, Balthus, David Hockney, Nobuyoshi Araki, Patty Smith, Alfred Watson und Stefanie Schneider, eine deutsche Künstlerin, die in Kalifornien lebt. Interessant ist, dass bereits zu Jim Herberts Zeiten, in den 1970er-Jahren, die Polaroid-Kamera öfters für intime Darstellungen eingesetzt wurde. Ich erinnere mich an eine entsprechende Diskussion auf Herberts Veranda. Herbert sinnierte über die Gründe dafür und meinte, dass die Aufnahmesituation, in Anbetracht dessen, dass man die Bilder sofort sehen (und allenfalls vernichten) konnte, eine viel entspanntere Atmosphäre zwischen Modell und Fotografen schuf. In der normalen Fotografie war eine solche Kontrolle durch das Modell damals noch nicht möglich.

Mein über Jahrzehnte im Kühlschrank gelagerter Vorrat an Polaroid-Filmsorten ging gerade zur Neige, als ich 2008 erfuhr, dass der Österreicher Florian Kaps mit seinem «Impossible Project» Polaroid-Filme wieder herstellen will. Zwischenzeitlich läuft die Produktion von SX70-Filmen erneut unter dem Namen POLAROID. Die Farben sind nicht mehr ganz so intensiv wie beim ursprünglichen Film und leider wurde die Produktion des Polaroid 100 (Trennfilm) nicht wieder aufgenommen. Bei diesem Material blieb das Negativ erhalten, was das Duplizieren ohne Schritt über einen Scanner ermöglichte.
Wie einst in den 1970er-Jahren tüftle ich heute erneut mit Polaroid. Ich malträtiere die Originale mit allen nur denkbaren Methoden: Ich koche die Bilder in Wasser und anderen Flüssigkeiten, lege sie in die Mikrowelle, bemale sie oder trenne die Schichten in heissem Wasser und entwickle die Diatypie-Methode weiter. Um bestehende Sujets weiter zu bearbeiten, nutze ich auch das sogenannte «Polaroid Lab». Man transferiert ein Bild aufs iPhone, legt es auf das Polaroid Lab-Gerät und erhält ein SX70-Bild. Dieses kann man dann scannen, verändern und wenn man will, erneut mit dem Polaroid Lab auf analoges Material belichten. Unter den Puristen der analogen Fotografie sind solche digitalen Umwege verpönt. Ich vertrete jedoch die Ansicht, dass in der Kunst alles erlaubt sein sollte, was zu einer neuen Sehweise führt.


Steff Gruber, Ciutadella, Menorca, Juni 2022


Illustrationen:

– Polaroid, Silva Thin und Andy Warhol (Warhol Factory)
– Herbert und Jackie in der Badewanne (Aperture)
– SX70, Herbert and Jackie im Alice’s Restaurant (Steff Gruber)
– Herbert im T.K- Harty’s Saloon (Bonnie T / Steff Gruber)
– Beispiel aus STILLS von James Herbert (Twin Palms Publishers)
– SX70, Cindy Wilson (Steff Gruber)
– 4/5 Polaroid, Wanda Wester und Steff Gruber (Bonnie T)
– SX70, Portal Cinecitta, Rom (Steff Gruber)
– SX70-Hybrid, Judith van der Heuvel in SCECRET MOMENTS, Amsterdam (Steff Gruber)
– SX70-Hybrid, Helen in SCECRET MOMENTS, Amsterdam (Steff Gruber)


[1] As one of Andy Warhol’s Superstars under the pseudonym of Silva Thin, Jeremy Ayers (then known as Jerry) was active in the Warhol Factory scene in the 1970s. After returning to his native town of Athens, where Ayers’ band Limbo District introduced an eccentric sound and vision, he traveled frequently between Athens and New York. https://en.wikipedia.org/wiki/Jeremy_Ayers

[2] James Herbert hat auch die Music Videos für R.E.M. und The B52’s gemacht: https://imvdb.com/n/james-herbert

[3] Roger Lyle Brown, PARTY OUT OF BOUNDS, The B-52’s, R.E.M., and the Kids Who Rocked Athens, Georgia 2016, UGA Press, ISBN: 9-780-8203-5040-0.

[4] James Herbert, STILLS, 1992, Twin Palms Publishers, ISBN: 978-0-944092-19-4

[5] diatypie.com ist ein von Steff Gruber eingetragenes Warenzeichen

[6] https://en.wikipedia.org/wiki/Robert_Evans

[7] GIRLS ARE GIRLS & GUYS ARE GUYS, Casting Video by Steff Gruber, https://www.youtube.com/watch?v=jFyAQKF_5Mc&t=3s